BDA AGENDA 14/2024 | THEMA DER WOCHE | 17. Juli 2024
Die Koalitionsspitzen haben vergangene Woche nach langem Ringen in ihrer „Wachstumsinitiative“ Vorschläge auf den Tisch gelegt, die ambivalent zu bewerten sind. Das gilt besonders auch für den Vorschlag, Überstundenzuschläge ab einer bestimmten Stundenzahl steuer- und damit beitragsfrei zu stellen. Das Ziel ist richtig. Wir müssen über Anreize nachdenken, wie wir die Bereitschaft steigern können, das Arbeitsvolumen zu erhöhen. Die Fokussierung auf Zuschläge ist aber der falsche Weg!
Systematisch ist es richtig, eine Steuer- und Beitragsfreiheit auf die Zuschläge von Überstunden zu beschränken. Auch Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit sind zum Teil steuer- und beitragsfrei. Offen ist allerdings, welche Auswirkungen eine solche Privilegierung von Überstunden auf tarifpolitische Verhandlungen haben kann und ob und wie sie betrieblich umsetzbar ist, z.B. wenn Arbeitszeitkonten genutzt werden. Die tarifliche und betriebliche Praxis entwickelt sich seit Jahrzehnten hin zu einem Ausgleich von Überstunden durch Freizeit. Der überwiegende Teil der Überstunden wird in Form bezahlter Freizeit gewährt. Viele Tarifverträge regeln, dass Mehrarbeit auf Arbeitszeitkonten einzustellen ist; 60 % aller Beschäftigten haben Arbeitszeitkonten. Flexibilität hat nicht nur für Betriebe, sondern auch für Beschäftigte einen immer höheren Stellenwert, gerade auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eine abgabenrechtliche Privilegierung von Zuschlägen darf diese Flexibilität vor Ort nicht gefährden. Gleichermaßen kann ein Druck hin zu niedrigeren Arbeitszeiten in Tarifverhandlungen entstehen, um privilegierte Zuschläge von der "Ersten Stunde" an in Anspruch nehmen zu können. Das wäre geradezu kontraproduktiv für die Steigerung des Arbeitsvolumens.
Über all dem stellt sich aber die Frage, ob eine Unterscheidung zwischen Arbeitgebern mit und solchen ohne Tarifbindung der richtige Ansatz sein kann, wenn insgesamt eine Erhöhung des Arbeitsvolumens angestrebt wird. Betroffen wäre nicht nur die negative Koalitionsfreiheit. Es stellen sich steuersystematische Fragen der Gleichbehandlung genauso wie die Frage, ob und welche Auswirkungen die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur "Diskriminierung" von Teilzeitbeschäftigten hat. Vor allem können einige motiviert sein, dies als falsches Signal aufzufassen, dass eine Vollzeit von 34 Stunden vollkommen ausreichend ist und alles, was darüber hinaus geht, durch Gewährung einer besonderen Leistung, des privilegierten Zuschlags, abgegolten werden sollte.
Der richtige Weg führt über eine andere Strecke. Statt steuerliche Anreize bezogen auf Zuschläge zu diskutieren, müssen wir den Steuertarif generell ins Auge fassen. Wer mehr arbeitet, sollte generell mehr Netto vom Brutto in der Tasche haben – nicht nur wenn er aus Teilzeit in Vollzeit wechselt oder Überstundenzuschläge erhält.
Vor allem aber brauchen wir ein Signal, dass Wirtschaft und Gesellschaft sich wieder bewusst werden, dass Arbeit zum Leben gehört und unser Wohlstand eine hohe Arbeits- und Leistungskultur voraussetzt. Ein solches Signal kann in der ebenfalls angekündigten Reform des Arbeitszeitgesetzes bestehen, wenn diese konsequent angegangen wird. Die Ersetzung der täglichen durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit, mehr Gestaltungsspielräume der Sozialpartner bei der Ruhezeit und die Sicherung der Vertrauensarbeitszeit sind Bausteine auf diesem Weg!