Ein starker Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten ist die größte Errungenschaft der europäischen Integration. Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital bildet die Grundlage für Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit in der EU. Der Binnenmarkt ist der weltgrößte Wirtschaftsraum, aber er ist noch lange nicht vollendet. Nationale Alleingänge und protektionistische Tendenzen gefährden die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes, insbesondere im Hinblick auf Dienstleistungen und Arbeitnehmermobilität. Umso wichtiger ist es, bestehende sozialversicherungs- und arbeitsrechtliche Hindernisse im Binnenmarkt gezielt abzubauen.
Verordnung 883/2004: Mobiles Arbeiten und A1-Beantragungspflichten
Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und die Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 koordinieren die verschiedenen nationalen Sozialversicherungssysteme. Die Existenz und die Ausgestaltung nationaler Sozialrechtsordnungen bleiben unberührt – es handelt sich lediglich um Kollisionsnormen, die festlegen, welchen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherung die Arbeitnehmer unterliegen, die sich innerhalb der Europäischen Union bewegen.
Der seit Ende 2016 laufende und nach wie vor offene Revisionsprozess der beiden Verordnungen sorgt für Rechtsunsicherheit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer und muss dringend abgeschlossen werden. Der überarbeitete Koordinierungsrahmen muss im Sinne einer praxisnahen und unbürokratischen Lösung dabei vor allem ermöglichen, dass Dienstreisen sowie kurzfristige und/oder kurzzeitige Entsendungen mit Dienstleistungsbezug von dem Erfordernis einer A1-Bescheinigung vollständig befreit sind. Die Besonderheiten verschiedener Sektoren müssen berücksichtigt werden, so dass etwa der Bausektor von dieser Ausnahme nicht betroffen sein wird.
Darüber hinaus bedarf es auch einer klaren Handhabe, wie vor dem Hintergrund des stark wachsenden Trends des mobilen Arbeitens mit der Frage „Home Office im Ausland“ umgegangen werden soll.
Melde- und Dokumentationspflichten nach Entsenderichtlinie
Die Mitgliedstaaten haben im Zuge der nationalen Umsetzung der Durchsetzungsrichtlinie zur Entsenderichtlinie umfangreiche und unterschiedliche Melde- und Dokumentationspflichten eingeführt. Die Vorgaben zu den meldepflichtigen Tätigkeiten, zum Zeitpunkt, zum konkreten Adressaten und zum Inhalt der Anmeldung, zu den mitzuführenden Dokumenten sowie zu den Pflichten nach der Beendigung des Einsatzes unterscheiden sich in den einzelnen Mitgliedstaaten stark voneinander, was für Unternehmen und Arbeitnehmer schwer zu bewältigen ist.
Die administrativen Schwierigkeiten bei der Entsendung müssen abgebaut werden. Als erste Lösung hat die Europäische Kommission angekündigt, ein gemeinsames freiwilliges elektronisches Formular („eDeclaration“) zu konzipieren. Um eine praxistaugliche Lösung sicherzustellen, sollten möglichst viele Mitgliedstaaten mitmachen. Langfristig müssen die Verwaltungsanforderungen in der Durchsetzungsrichtlinie verschlankt sowie das A1-Verfahren in die eDeclaration integriert werden.
Digitalisierung von Meldewegen
Die vollständige Inbetriebnahme des IT-Systems zum Elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten (EESSI) ist ein längst notwendiger Schritt. Insbesondere die unterschiedlichen nationalen Vorschriften zur Vorlage von A1-Bescheinigungen verursachen erhebliche Rechtsunsicherheiten bei Beschäftigten und Unternehmen zugleich.
Es bleibt abzuwarten, welche Impulse die von der EU-Kommission vorgelegte Initiative zur Schaffung eines Rahmens für eine europäische digitale Identität im Hinblick auf die Entwicklung eines europäischen Sozialversicherungsausweises (ESSPass) liefert. Dieser könnte den Austausch zwischen Beschäftigten und Behörden durchaus erleichtern. Wichtig ist, dass bei der Ausgestaltung auch die Arbeitgeberseite von Beginn an miteinbezogen wird.
Es ist zu begrüßen, dass die EU-Kommission zunächst von dem Projekt einer europäischen Sozialversicherungsnummer Abstand genommen hat. Diese hätte lediglich einen Mehrwert, wenn bspw. in Deutschland eine eindeutige Personenzuweisung gewährleistet würde. Dies ist aktuell nicht der Fall. Die Schaffung einer zusätzlichen Sozialversicherungsnummer, die in der Vergabe und Pflege zudem sehr kostenintensiv wäre, hätte daher lediglich die bestehenden Verfahren in Deutschland weiter verkompliziert.
Grundlegende Anpassung des Entsenderechts
Die Revision der Entsenderichtlinie im Jahr 2018 hat zu Verschärfungen und mehr Komplexität geführt. Durch die Neuregelungen haben sich für Betriebe zahlreiche Fragen ergeben, die in der Praxis zu Rechtsunsicherheit führen. Statt der bisherigen Mindestlohnsätze muss zum Beispiel die Entlohnung ermittelt werden, die für einen vergleichbaren Arbeitnehmer in allgemeinverbindlichen Tarifverträgen oder kraft Gesetzes im Zielland gilt. Dies ist in der Praxis eine schwierige und ohne entsprechende ausländische Experten kaum zu bewältigende Aufgabe. Deshalb hat die BDA Vorschläge für ein neues praktikables Entsendesystem in der EU erarbeitet und einen Praxisleitfaden vorgelegt, der über die wesentlichen Regelungen informiert und mit Hinweisen für die Praxis verbindet. Langfristig muss ein neues europäisches Entsendesystem geschaffen werden – mit klaren und unbürokratischen Regeln, die EU-weit einheitlich umgesetzt werden.
Hürden im Binnenmarkt
Ein funktionierender Binnenmarkt setzt voraus, dass die Binnenmarktvorschriften eingehalten und durchgesetzt werden sowie keine neuen Hürden eingeführt werden. Um der mangelnden Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, hat die EU-Kommission im März 2020 eine Taskforce für die Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften eingerichtet („SMET“: Single Market Enforcement Taskforce). Die Taskforce wird die Einhaltung der Binnenmarktvorschriften im nationalen Recht bewerten, die dringendsten Hindernisse und Überregulierung identifizieren sowie horizontale Durchsetzungsfragen thematisieren. Damit die SMET einen wichtigen Beitrag leisten kann, soll sie kein bloßes Diskussionsforum werden, in dem die Mitgliedstaaten die Binnenmarkthindernisse nur erörtern, sondern muss auch praxistaugliche Lösungen für den Abbau der Binnenmarkthindernisse erarbeiten. Im ersten Jahr hat SMET die verpflichtende Notifizierung der beruflichen Qualifikationen bei grenzüberschreitender Dienstleistungserbringung in 155 Berufen abgeschafft. Fortschritte im Bereich der Entsendung bleiben aber noch aus.
Grenzkontrollen im Schengen-Raum
In den letzten Jahren haben Grenzschließungen, unkoordinierte Maßnahmen an den Grenzen und sich ständig ändernde Reisebeschränkungen den Binnenmarkt stark beeinträchtigt. Der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen muss auch in grenzüberschreitenden Krisen (z. B. Pandemie, Flüchtlingskrise) aufrechterhalten werden. Die Überarbeitung des Schengener Grenzkodexes muss die Lehren aus der Krise reflektieren und klare gemeinsame Regeln für die Einführung von Grenzkontrollen etablieren, die auch die notwendige Mobilität von Arbeitskräften garantieren müssen. Nicht rechtmäßige Grenzschließungen sollten mit einem Vertragsverletzungsverfahren verfolgt werden.
Europäische Arbeitsbehörde (ELA)
Die neu geschaffene Europäische Arbeitsbehörde schafft vor allem dann einen Mehrwert, wenn sie verlässliche und verständliche Informationen zur grenzüberschreitenden Arbeitnehmermobilität, insbesondere im Bereich der Entsenderegelungen, bereitstellt. Die angekündigte „Single European Website“ zur Bündelung der bestehenden Informationsangebote ist dabei ein zentrales Element. Ganz konkret muss bei der ELA im Zusammenhang mit der Website eine Helpdesk-Funktion eingerichtet werden, die Komplementarität mit den diversen bereits existierenden Plattformen in diesem Bereich (EURES, Your Europe Direct, Einheitliches Digitales Zugangstor) gewährleistet.