Arbeitgeberpräsident Dulger im Interview mit der Süddeutschen Zeitung
Berlin, 13. Juli 2022. Rainer Dulger, 58, führt mit seinem Bruder die Familienfirma, die unter anderem Pumpen für die Wasseraufbereitung herstellt. Als Chef der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) sperrt er sich gegen höhere Krankenkassenbeiträge - und hat überraschend viel Lob für Wirtschaftsminister Robert Habeck.
SZ: Herr Dulger, Sie sind der oberste Repräsentant der deutschen Arbeitgeber. Viele Ihrer Kollegen schlagen Alarm, die Rede ist vom drohenden "Herzinfarkt der deutschen Wirtschaft". Können Sie uns heute etwas beruhigen?
Rainer Dulger: Das werde ich leider nicht können. Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte. Es sieht so aus, als ob Russland das Gas stark verknappt oder auf Dauer gar nichts mehr liefert. Und Deutschland ist bereits angeschlagen. Die Industrie hatte 2019 das erste Rezessionsjahr, dann stiegen die Preise stark, dann kam der Ukrainekrieg, und jetzt kommt Corona zurück.
Was kann man da noch tun?
Vieles passiert ja schon. Aber wenn es zu einem Gas-Lieferstopp kommt, steht die deutsche Wirtschaft wirklich vor ernsten Problemen. Chemie- oder Glasanlagen müssen abgestellt werden, wenn sie kein Gas haben. Das bleibt nicht auf die Industrie beschränkt, sondern trifft alle. Das ist eine völlig neue Situation. Wir müssen uns ehrlich machen und sagen: Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erst mal verlieren.
Sie gelten als Optimist. Ist davon nichts geblieben?
Doch. Ich sage auch: Es lässt sich noch Energie einsparen. Die Wirtschaft strengt sich an. Eines weiß ich: Krise haben wir noch immer gekonnt!
Manche sagen, die Probleme hängen mit der großflächigen Privatisierung wichtiger Leistungen zusammen, bei der man zu weit gegangen sei - weil jede Firma nur an sich gedacht hat und niemand ans große Ganze. Brauchen wir mehr Staat?
Nein, Deutschland ist nicht zu weit gegangen. Und ganz sicher braucht es nicht mehr Staat in der Wirtschaft. Private wirtschaften immer besser als der Staat. Aber wir alle - auch ich - haben bis zum 24. Februar nicht geglaubt, dass Russland wirklich in der Ukraine einmarschiert. Und wir haben etwas missachtet, was Helmut Schmidt in den 1970er Jahren noch wusste. Als man damals die Röhren für das Gas nach Russland zu liefern begann, sagte der damalige Bundeskanzler: Wir können das machen, aber wir dürfen nicht mehr als zu 30 Prozent von russischem Gas abhängen. Das wurde ignoriert.
Und jetzt?
Wirtschaftsminister Habeck ist sehr engagiert bei der Gewinnung alternativer Bezugsquellen. Aber die Unabhängigkeit von russischem Gas wird nicht von heute auf morgen gehen. Jetzt gilt es, entgegen der bisherigen politischen Festlegungen neben Gas auch die beiden Säulen Atom und Kohle zu nutzen, um glimpflich aus der Sache herauszukommen. Bei Kohle geschieht das, aber wir werden nicht darum herumkommen, darüber zu diskutieren, die drei verbliebenen Atomkraftwerke länger laufen zu lassen.
Falls es nicht zu einem Gasstopp kommt, sagen die Konjunkturinstitute für dieses Jahr zwei Prozent Wachstum vorher. Das ist viel mehr, als man in der derzeitigen Katastrophenstimmung glauben würde.
Das Problem mit Prognosen ist, dass man erst im Nachhinein weiß, ob sie zutreffen. Bis Ende des Jahres kann sich vieles verändern. Mich sorgt, dass die hohe Inflation die ganze Wirtschaft und damit auch unsere Beschäftigten trifft - und ich sehe viel sozialen Sprengstoff.
Genau deshalb fordert die IG Metall jetzt acht Prozent mehr Lohn für 2022 und 2023. Kann man verstehen, oder?
Die Gewerkschaft wünscht sich einen Ausgleich der Inflation, das kann ich nachvollziehen. Aber die Unternehmen stehen unter Druck und können sich das nicht leisten. Deshalb ist diese Forderung ganz schwierig. Sie passt nicht in die Zeit. Die Tarifparteien können das Problem der Inflation nicht alleine lösen.
Sondern?
Da muss der Staat ran und ist in der Pflicht. Es muss jetzt bei jedem Bürger auf dem Konto mehr netto vom brutto ankommen. Der Staat darf nicht das Netto weiter reduzieren und muss seine Krisengewinne fair zurückgeben.
Die beiden ersten Entlastungspakete der Regierung wirken ja. Wäre es gut, wenn sie ein drittes auflegt?
Finanzminister Lindner hat mir neulich vorgerechnet, dass eine Familie mit zwei Kindern 1000 Euro mehr im Jahr bekommt. Das ist gut. Ob das ausreicht, wenn die Inflation nächstes Frühjahr hoch bleibt, muss man sehen. Es zeigt sich auch, dass der Tankbonus nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat.
Bundeskanzler Scholz lädt im September Arbeitgeber und Gewerkschaften zum zweiten Treffen der Konzertierten Aktion ein. Was ist Ihre Erfahrung vom ersten Treffen: Ist das mehr als nettes Kaffeetrinken?
Unbedingt! Der Kanzler macht es genau richtig, er stimmt sich mit allen Beteiligten vertraulich ab. Medienwirksame Schnellschüsse sind weniger erfolgversprechend. Das erste Treffen diente der Orientierung, beim nächsten Mal wird es konkreter.
Es fällt auf, dass Wirtschaftsvertreter die Bundesregierung anders als früher reichlich loben. Insbesondere der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck ist der Liebling der Unternehmen. Weil er alles macht, was Sie sagen?
Da muss ich schmunzeln. Ich stehe wirklich nicht im Ruf, Wirtschaftsminister zu loben ...
... Habecks Vorgänger von der Union, Peter Altmaier, haben Sie öffentlich für fehl am Platz erklärt ...
... Habeck macht es genau richtig: Er redet nicht nur klug daher oder erklärt uns die Welt, sondern er hört zu. Und er stimmt sich unablässig ab, in Runden mit Energieerzeugern, großen Verbraucher und anderen relevanten Akteuren - und macht dann das, was notwendig ist, Schritt für Schritt.
Trotzdem: Steuersenkungen, die große Forderung der Industrie seit jeher, werden Sie auch von dieser Regierung nicht bekommen. Ist das für Sie okay? Weil Sie vielleicht auch umdenken in dieser Zeitenwende? Weil die alten Forderungen verbraucht sind und es jetzt um mehr Umverteilung gehen muss? Sie selbst haben ja eben von sozialem Sprengstoff gesprochen. Die starke Mittelschicht, für die Deutschland weltweit bekannt war, bröckelt, ein Aufstieg aus eigener Kraft ist seltener möglich, nur wer schon Geld hat, kann es mehren. Brauchen wir nicht doch höhere Erbschaft- und Vermögensteuern, womöglich eingebettet in eine größere Steuerreform?
Gerade in Deutschland ist die Gerechtigkeit nicht aus dem Fokus geraten, auch im europäischen Vergleich nicht. Die Arbeitgeber sind sich ihrer sozialen Verantwortung von jeher sehr bewusst. Die Unternehmer mit höheren Steuern aus dem Land zu treiben, davon halte ich nichts. Besser wäre es, unsere Sozialsysteme zu reformieren, bevor sie gänzlich unbezahlbar sind. Jeder hier in Berlin kennt die Zahlen, aber keiner traut sich drüber zu reden, aus Angst vor den nächsten Wahlen.
Sie spielen darauf an, dass Deutschland altert und schrumpft, die Sozialbeiträge steigen bald auf mehr als 40 Prozent. Was schlagen Sie der Bundesregierung vor, um leere Rentenkassen und hohe Lohnnebenkosten zu verhindern?
Die Arbeitgeber haben dazu gute Vorschläge gemacht. Unter anderem muss die private und die betriebliche Altersvorsorge gestärkt werden und das Rentenalter dynamisiert werden ...
... also das Renteneintrittsalter erhöht werden ...
Nein, ich sage bewusst: dynamisiert, das ist kein starrer Prozess. Es geht einfach nicht, dass sich die Lebenserwartung erhöht, aber das Rentenalter nicht. Man muss das aneinander koppeln. Als mein Großvater in Rente ging, haben vier Berufstätige seine Rente finanziert. Wenn ich in Rente gehe, sind es nicht mal mehr eineinhalb Beschäftigte.
Viele Menschen wollen aber kein höheres Rentenalter. Woher nehmen Sie den Optimismus, dass die Politik dieses heiße Eisen ausgerechnet jetzt anpackt, in Zeiten der Krise?
Mir ist schon klar, dass wir jetzt erst mal die aktuelle Krise lösen müssen. Darüber hinaus geht es mir nicht darum, populär zu sein. Sondern das Notwendige vorzuschlagen, damit dieses Land am Laufen gehalten wird. Die Sache ist eigentlich ganz klar: Es darf einfach keine weiteren Belastungen für die Unternehmen und die Beschäftigten geben. Das packen wir nicht!
Bei der Rente dauert das auch noch ein paar Jahre, bei der Krankenversicherung steht die nächste Beitragserhöhung bald an.
Noch einmal: Beitragserhöhungen sind jetzt völlig verkehrt. Die belasten Unternehmen und Beschäftigte, und die Lohn-Preis-Spirale dreht sich immer schneller. Höhere Krankenkassenbeiträge wären also falsch. Die Defizite der Kassen sollte lieber der Staat durch Zuschüsse und Reformen auffangen.
Apropos soziale Gerechtigkeit. Am 1. Oktober steigt der gesetzliche Mindestlohn auf zwölf Euro. Machen Sie damit Ihren Frieden?
Es geht nicht um die zwölf Euro. In vielen Branchen liegt der Mindestlohn sogar deutlich höher, und das ist gut so. Ich kritisiere die Politisierung des Prozesses und den Weg dorthin. Gesetzlich vereinbart ist eine Kommission, die den Mindestlohn bestimmt. Darüber haben sich die Wahlkämpfer, die jetzt in dieser Bundesregierung sind, hinweggesetzt. Das war ein schwerer Fehler und lässt mich für den kommenden Wahlkampf Schlimmes befürchten.
Klagen Sie dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht?
Das ist noch nicht entschieden.
Die Demografie trifft nicht nur die Sozialsysteme, man sieht ihre Folgen schon heute. Am Flughafen, im Restaurant, überall herrscht Personalmangel - was muss politisch passieren?
Ja, in den kommenden Jahren verlieren wir Millionen von Arbeitskräften in den Ruhestand, und es kommen viel weniger nach. Wir brauchen jedes Jahr auch gezielte Zuwanderung. Und damit meine ich nur die erwerbsfähigen Menschen, es kommt ja teils auch jemand aus der Familie wie Kinder mit. Das Problem ist, dass wir uns bisher zu stark auf die Asylpolitik konzentrieren. Wir brauchen aber viel mehr unkomplizierte Gewinnung von Arbeitskräften. Gehen Sie im Ausland mal zu einem deutschen Konsulat und sagen: Hej, ich möchte in Deutschland arbeiten. Die haben nicht mal ein Formular für Sie. Das muss dramatisch entbürokratisiert und digitalisiert werden, mit Online-Verfahren und so weiter. Auch hier entscheidet sich der deutsche Wohlstand.
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