Die Konjunktur ist schwach, die Herausforderungen
kommen noch


BDA AGENDA 7/22 | KOMMENTAR DER WOCHE | 7. April 2022

Prof. Dr. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Inhaberin des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

 

Die Aussichten für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und im Euro-Raum haben sich durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine drastisch verschlechtert. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat daher seine Prognose aus dem Herbstgutachten 2021 deutlich nach unten revidiert: Wir erwarten für das Jahr 2022 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um lediglich 1,8 % und für das Jahr 2023 ein Wachstum von 3,6 %. Damit würde das das Vorkrisenniveau des BIP erst im 3. Quartal 2022 wieder erreicht.

Die stark gestiegenen Preise für fossile Energieträger werden von den Unternehmen nun zunehmend an die Endkunden weitergegeben. Hinzu kommen höhere Lebensmittelpreise, aufgrund von Kostensteigerungen bei Düngemitteln und ausbleibenden Agrarexporten aus Russland und der Ukraine. Der Sachverständigenrat rechnet daher mit einer Inflation von 6,1 % im Jahr 2022. Im kommenden Jahr dürfte die Inflation dann auf 3,4 % zurückgehen.

Die hohe Inflation und die steigenden Inflationserwartungen werden voraussichtlich auch die Lohnforderungen in den anstehenden Tarifverhandlungen beeinflussen, die ab dem zweiten Halbjahr 2022 zunehmen dürften. Damit steigt das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale. Für das Jahr 2022 erwartet der Sachverständigenrat ein Wachstum der von den Unternehmen tatsächlich gezahlten Löhne von 2,5 %. Im kommenden Jahr dürften die Löhne um 4,4 % steigen.

Die Auswirkungen und die weitere Entwicklung des Kriegs in Europa lassen sich aktuell nur schwer abschätzen. Jede Konjunkturprognose ist daher zwangsläufig mit sehr großer Unsicherheit behaftet. Deutschland ist stark von russischen Energielieferungen abhängig. Ein Stopp dieser Lieferungen würde dazu führen, dass die deutsche Volkswirtschaft in eine Rezession abrutscht und die Inflation noch stärker zunimmt.

Deutschland sollte umgehend alle Hebel in Bewegung setzen, um sich gegen einen möglichen Stopp russischer Energielieferungen zu wappnen und insbesondere die Gasspeicher bis zum nächsten Winter so weit wie möglich zu füllen. Die Beschaffung von Gas aus aller Welt muss mit größter Priorität verfolgt werden. Vollständig wird man die russischen Lieferungen kurzfristig jedoch nicht ersetzen können. Daher gilt es, Gas – wo möglich, wie etwa bei der Stromerzeugung – durch andere Energieträger zu substituieren und unmittelbar eine Energieeffizienzinitiative voranzubringen, um kurzfristig Einsparungen weitest möglich zu realisieren. Darüber hinaus muss die Bundesregierung sich darauf einstellen, gezielt Hilfsmaßnahmen umzusetzen, um im Falle eines Lieferstopps Unternehmenspleiten und Arbeitslosigkeit zu verhindern.

Mittelfristig muss Deutschland die Lieferquellen für Energieimporte zügig diversifizieren und die Abhängigkeit von Russland schnellstmöglich beenden. So kann die Energiesicherheit in Deutschland auf Dauer erhöht werden – allerdings bedeutet dies auch, dass die Energiepreise in den kommenden Jahren strukturell höher bleiben werden.

Eine höhere Energiesicherheit kostet. Sie stärkt aber die Position Deutschlands und der EU in der zukünftige weniger regelbasierten sondern vielmehr machtbasierten Weltordnung, ebenso wie der beschlossene Ausbau der Verteidigungsfähigkeit. Die vom Bundeskanzler beschworene Zeitenwende muss den Strukturwandel massiv beschleunigen und wird unsere Handlungsfähigkeit auf die Probe stellen.