Stärkung der Pflegekompetenz
reicht zur Bewältigung der Herausforderungen in der Pflegeversicherung bei weitem nicht aus
Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Pflegekompetenz (Pflegekompetenzgesetz – PKG)
30. September 2024
Zusammenfassung
In kaum einem anderen Bereich sind die Kosten in den letzten Jahren so sehr gestiegen wie in der sozialen Pflegeversicherung. So haben sich die Ausgaben zwischen 2010 und 2023 fast verdreifacht. Ursachen hierfür waren insbesondere Leistungsausweitungen und gesetzliche Vorgaben zur Entlohnung des Pflege- und Betreuungspersonals in Langzeitpflegeeinrichtungen sowie ein anhaltend starker Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen, der über das allein aus der demografischen Entwicklung erwartbare Maß hinausgeht. Zudem steht die wachsende und absehbar weiter steigende Pflegeprävalenz einem gleichzeitig im Verhältnis zum Bedarf stagnierenden Versorgungsangebot für pflegebedürftige Menschen gegenüber.
Vor diesem Hintergrund besteht dringender Handlungsbedarf. Diesem Handlungsbedarf wird der vorliegende Referentenentwurf nicht ausreichend gerecht. Zwar sind vorgesehene Maßnahmen wie z. B. die Ausweitungen der Kompetenzen von Pflegefachpersonen oder die Evaluation des Begutachtungsinstruments grundsätzlich richtig, allerdings werden Maßnahmen zur finanziellen Stabilisierung der sozialen Pflegeversicherung ausgespart. Notwendig wäre eine grundlegende und nachhaltige Strukturreform, die eine Weiterentwicklung der Pflegefinanzierung und der Pflegeinfrastruktur umfassen muss. Sonst droht ein weiterer erheblicher Anstieg der Beiträge zur Pflegeversicherung in den kommenden Jahren. Um die Zeit zu überbrücken, bis echte Strukturreformen im Pflegebereich wirken, müssen zeitnah Maßnahmen ergriffen werden, damit die Beitragssätze in der Pflegeversicherung konstant gehalten werden können. Insbesondere sollten – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – die Rentenversicherungsbeiträge von pflegenden Angehörigen und die pandemiebedingten Mehrausgaben aus Steuermitteln finanziert werden.
Dringlich ist zudem, dass eine unbürokratische Regelung des Nachweises über die Elterneigenschaft im digitalen Verfahren zur Erhebung der Kinderanzahl im Beitragsrecht der Pflegeversicherung (DaBPV) für die sogenannten Differenzkinder in den Gesetzentwurf aufgenommen wird.
Im Einzelnen
Erweiterung der Pflegekompetenzen sachgerecht ausgestalten
Die Erweiterung der Pflegekompetenzen kann zu einer effizienten Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen beitragen. Daher ist es richtig, die Kompetenzen von Pflegefachpersonen auszuweiten. Zusätzlich bedarf es aber noch einer Abgrenzung zwischen den heilkundlichen Leistungserbringenden. Ohne die Klärung, wie eine verzahnte und aufeinander abgestimmte medizinische und pflegerische Versorgung erreicht werden kann, wird kein zielgenauer und effizienter Einsatz erfolgen. Zudem ist sicherzustellen, dass die mit einer Kompetenzerweiterung einhergehende perspektivische Vergütung der erbrachten Leistungen in den Budgets der anderen Leistungserbringenden bereinigt wird, um Doppelausgaben zu vermeiden. Nur so können auch tatsächlich Effizienzgewinne erzielt werden.
Evaluation des Begutachtungsinstruments geboten
Die Evaluation des Begutachtungsinstruments zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit auf unabhängiger wissenschaftlicher Grundlage ist vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren über die prognostizierte demografische Entwicklung hinaus angestiegene Zahl der Pflegebedürftigen richtig und geboten. Die Gründe, die hierzu seit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des neuen Begutachtungsinstruments geführt haben, müssen wissenschaftlich untersucht werden. Insbesondere Faktoren wie die Wirkungsweisen des Begutachtungsinstruments, die Prävalenz von bestimmten pflegebegründenden Erkrankungen und demografischen Faktoren sind zu berücksichtigen. Anschließend müssen Schlüsse aus den Ergebnissen gezogen und ggf. das Begutachtungsinstrument angepasst werden.
Pflegebegutachtung nur durch neutrale und unabhängige Stellen durchführen
Die Notwendigkeit der bürokratischen Entlastung bei der Feststellung von Pflegebedürftigkeit ist unbestritten. Die geplanten Maßnahmen (wenn auch zunächst nur in einem Modellprojekt) sind hierzu jedoch nicht unbedingt geeignet und bergen die Gefahr deutlicher Kostensteigerungen. Denn nur, weil Begutachtungen von Pflegefachpersonen einer Pflegeeinrichtung vorgenommen werden, werden sie nicht unbürokratischer. Und zum anderen bergen sie die Gefahr, dass die gutachterliche Unabhängigkeit und damit die gebotene Neutralität in der Feststellung von Pflegebedürftigkeit gefährdet werden. Ein ökonomischer Anreiz bei den Pflegepersonen zur Höherstufung kann bei den Pflegefachpersonen bestehen, da sie mit den Pflegeeinrichtungen organisatorisch, wirtschaftlich oder personell verflochten sind. Eine fehlende Neutralität kann damit zu deutlichen ungerechtfertigten Kostensteigerungen führen.
Keine einseitige Erweiterung der Mitgestaltungsmöglichkeiten der Kommunen vorsehen
Die vorgesehene einseitige Erweiterung der Mitgestaltungsmöglichkeiten der Kommunen bei der Zulassung von Pflegeeinrichtungen ist abzulehnen. Während die Länder durch Landesrecht bestimmen können sollen, ob bzw. wie eine kommunale Pflegestrukturplanung vorzusehen ist, haben die Pflegekassen kein verbindliches Mitwirkungsrecht. Das stellt keine Verbesserung der Zusammenarbeit dar, sondern birgt vielmehr die Gefahr der Entkoppelung von Planung und Zahlungsverantwortung. Zudem sehen die gesetzlichen Neuregelungen vor, dass Pflegekassen künftig die Empfehlungen der regionalen Ausschüsse nach § 8a Abs. 3 SGB XI verbindlich bei der Zulassung von Pflegeeinrichtungen beachten müssen. Dies ist aus zweierlei Gründen kritisch und abzulehnen.
Zum einen liegt die Sicherstellung der pflegerischen Versorgungsstruktur in der Verantwortung der Länder. Es ist zu verhindern, dass sie sich hier einseitig entlasten. Bereits heute kommen sie ihren gesetzlichen Verpflichtungen aus § 9 SGB XI zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen nicht in ausreichendem Maße nach[1]. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen könnten durchschnittlich um bis zu 485 € pro Monat entlastet werden, wenn die Länder ihrer Verantwortung zur Sicherstellung der pflegerischen Versorgungsstruktur nachkämen.
Zum anderen muss – gerade mit Blick auf die demografische Entwicklung – sichergestellt bleiben, dass jedes Unternehmen, welches die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Leistungserbringung der Altenpflege erfüllt, auch in Zukunft einen Versorgungs- und Vergütungsvertrag erhält. Sonst wird die Bereitstellung ausreichender Pflegeplätze nicht gelingen.
Keine Doppelstrukturen in der Prävention schaffen
Ein Ausbau der Prävention im Bereich der Pflege ist grundsätzlich richtig. Die Bemühungen, Gesundheit, Lebensqualität, Selbstbestimmung, Mobilität und Selbstständigkeit möglichst bis ins hohe Alter zu erhalten und dabei die Entstehung von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden beziehungsweise hinauszuzögern, sind elementare Versorgungsbestandteile. Leistungen der Primärprävention nach §§ 20, 20a SGB V können auch für ältere Menschen, die pflegebedürftig und zu Hause von Angehörigen oder durch ambulante Pflegedienste versorgt werden, sinnvoll sein und helfen, gesundheitliche Risiken zu reduzieren und Ressourcen zu stärken. Es ist aber sicherzustellen, dass hier keine Doppelstrukturen in den Ansprüchen oder in den Beratungsstrukturen und -angeboten für die Gesundheitsförderung und Prävention in der Pflegeversicherung geschaffen werden.
Auch digitale Anwendungen müssen evidenzbasiert sein
Digitale Pflegeanwendungen (DIPA) können einen wichtigen Baustein in der Versorgung von Pflegebedürftigen spielen, müssen aber evidenzbasiert sein und wirtschaftlich erbracht werden. Die nun vorgesehene Entkopplung dieser Anwendungen von den Kriterien zur Pflegebedürftigkeit ist daher kritisch zu sehen. Es muss dabei bleiben, dass auch für diejenigen DIPA, die auf die Unterstützung Angehöriger oder sonstiger ehrenamtlich Pflegender ausgerichtet sind, evidenzbasierte Nachweise erbracht werden müssen. In der anstehenden Digitale Pflegeanwendungen-Verordnung – DiPAV müssen entsprechende Vorgaben hinsichtlich der Anforderungen an evidenzbasierte Nachweise geregelt werden.
Pflegeversicherung finanziell stabilisieren und Strukturreformen angehen
Die soziale Pflegeversicherung muss umfassend reformiert werden, damit sie dauerhaft leistungsfähig und finanzierbar bleibt. Ohne eine grundlegende und nachhaltige Strukturreform, die auch eine Weiterentwicklung der Pflegefinanzierung und der Pflegeinfrastruktur umfassen muss, droht die Belastung der Arbeitskosten durch Pflegeversicherungsbeiträge in den kommenden Jahren erheblich weiter zu steigen. Höhere Lohnzusatzkosten schwächen die Wettbewerbsposition des Wirtschaftsstandorts Deutschlands und gefährden Investitionen, Wachstumschancen und Arbeitsplätze.
Um die Zeit zu überbrücken, bis echte Strukturreformen im Pflegebereich wirken, müssen zeit-nah Maßnahmen ergriffen werden, damit die Beitragssätze in der Pflegeversicherung konstant gehalten werden können. Die ohnehin international extrem hohe Abgabenbelastung auf Löhne und Gehälter in Deutschland darf nicht noch weiter nach oben getrieben werden.
Vorrangig sollten zwei im Koalitionsvertrag dem Grundsatz nach vereinbarte Vorhaben umgesetzt werden:
- Finanzierung der Rentenbeiträge für pflegende Angehörige durch den Bund (ca. 2,4 Mrd. €). Durch die Zahlung von Beiträgen in die gesetzliche Rentenversicherung für pflegende Angehörige durch die Pflegekassen soll Sorgearbeit honoriert werden, indem pflegende Angehörige ohne eigene Beiträge einen Rentenanspruch erwerben können. Dabei handelt es sich um eine versicherungsfremde Leistung, die entsprechend – wie bei den Rentenbeiträgen für Kindererziehungszeiten – aus Bundesmitteln zu finanzieren ist.
- Ausgleich der pandemiebedingten Zusatzkosten durch den Bund (ca. 4 Mrd. €), damit die Pflegekassen die Mittel zurückerhalten, die sie aufgrund von gesetzlichen Vorgaben während der Corona-Pandemie zusätzlich aufgewendet haben.
Kinderzahlabhängige Beitragsgestaltung ausnahmslos digital unterstützt umsetzen
Mit dem Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz wurden die Arbeitgeber als größte beitragsabführende Stelle verpflichtet, die Anzahl der Kinder ihrer Beschäftigten bei der Ermittlung des Pflegeversicherungsbeitrages zu berücksichtigen. Um übermäßige bürokratische Belastungen zu vermeiden, soll ein zentrales digitales Verfahren zur Übermittlung der Anzahl der Kinder an die beitragsabführenden Stellen geschaffen werden. Bis dieses Verfahren aufgebaut ist gilt – längstens bis zum 30. Juni 2025 – ein vereinfachtes Nachweisverfahren (Selbstauskunft). Beim Aufbau des zentralen digitalen Verfahrens hat sich gezeigt, dass nicht alle Kinder im System erfasst sind und daher auch nicht vollständig an die beitragsabführenden Stellen gemeldet werden können (sog. Differenzkinder). Die Erhebung, Prüfung, manuelle Erfassung und händische Pflege dieser sog. Differenzkinder würden die Arbeitgeber als größte beitragsabführende Stelle mit hohen bürokratischen Lasten belegen. Daher muss für die Erfassung der sog. Differenzkinder eine bürokratiearme Lösung gefunden werden. Folgende Lösungen sind denkbar:
- Digitale Lösung über die Zulagenstelle für Altersvermögen (ZfA)
Versicherte, die sog. „Differenzkinder“ berücksichtigt haben wollen, melden diese inkl. Nachweis bei der Zulagenstelle für Altersvermögen (ZfA). Diese prüft die Nachweise und trägt die Differenzkinder in den an die beitragsabführenden Stellen zu übermittelnden Datensatz ein.
Vorteil: Die ZfA ist mit der Prüfung der Elterneigenschaft grundsätzlich vertraut. Schon heute prüft sie Anträge auf Kinderzulage im Rahmen der Riester-Zulage. Zudem würden die Differenzkinder damit zentral erfasst und mit dem zentralen Datensatz an die beitragsabführenden Stellen übermittelt. Sog. Differenzkinder müssten nicht bei mehreren beitragsabführenden Stellen (z. B. mehreren Arbeitgebern oder bei einem Arbeitgeber und Rente) gemeldet, geprüft und berücksichtigt werden. Das geplante zentrale digitale Verfahren würde damit volle Wirkung entfalten. Zwar würde bürokratischer Aufwand in Bezug auf die Prüfung bei der ZfA anfallen, dies aber nur in geringerem Umfang und einmalig zentral bei einer Stelle, die eine effiziente Prüfung durchführen und Skaleneffekte erzielen kann. Zur Umsetzung müsste ggf. Kapitel XI des EStG geändert werden.
- Vereinfachtes Verfahren (Selbstauskunft) nur für sog. Differenzkinder über den 1. Juli 2025 hinaus
Falls der erste Weg ausscheiden sollte, sollte das derzeit geltende, vereinfachte Verfahren (Selbstauskunft) für die sog. Differenzkinder auch über den 1. Juli 2025 hinaus weiter gelten sowie auf eine Prüfung der Nachweise und eine rückwirkende Korrektur oder Nachforderungen in diesen Fällen auch weiter verzichtet werden.
§ 55 Abs. 3d SGB XI müsste entsprechend angepasst werden. Die Kinderzahl könnte in diesen Fällen händisch in den Entgeltabrechnungsprogrammen der Arbeitgeber angepasst werden. Der Selbstauskunftsbogen ließe sich sehr eng und so gestalten, dass Beschäftigten sehr deutlich ist, welche Folgen falsche Angaben haben würden. Auf eine Vorlage von Nachweisen (z. B. Geburtsurkunden) sollte verzichtet werden, da hierdurch zusätzliche bürokratische Aufwände entstünden.
Vorzugswürdig wäre der erste Weg, da der zweite Weg mit deutlich mehr Aufwand verbunden ist und dazu führt, dass sog. Differenzkinder nicht zentral erfasst und übermittelt werden, sondern die versicherten Beschäftigten ihre sog. Differenzkinder an mehrere Stellen melden müssen, was ineffizient ist.
Fußnoten:
1 Ochmann et al. (2024): Finanzentwicklung der sozialen Pflegeversicherung, S. 101 f.
Ansprechpartnerin:
BDA | DIE ARBEITGEBER
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