Politische Einmischungen in Lohnfindung schaden der Tarifautonomie


 
BDA AGENDA 3/22 | Thema der Woche | 10. Februar 2022

Mit dem Entwurf des BMAS für ein „Mindestlohnerhöhungsgesetz“ soll der Mindestlohn zu einer Art „living wage“ gemacht werden. Dieser völlig neue und veränderte Ansatz ist geeig-net, das Vertrauen der Sozialpartner zu beschädigen und staatliche Aufgaben auf Private zu verlagern.

Die Pläne aus dem BMAS greifen tief in die Tarifautonomie und in die Systematik des Min-destlohngesetzes ein. Mit der angestrebten Neudefinition des Mindestlohns hin zu einem „living wage“ macht der Staat die soziale Absicherung von Beschäftigten zu einer Verantwort-lichkeit der Betriebe. Der Staat bürdet damit den Betrieben eine Aufgabe auf, für die sie nicht zuständig sind und die nicht in das deutsche System einer funktionierenden tarifautonomen Entgeltfindung passt.

Das System eines living wage, den es etwa im anglo-amerikanischen Raum gibt, ist dem deutschen System, in dem Tarifpartner autonom in Tarifverhandlungen Löhne festlegen, fremd. Die Länder, die einen living wage eingeführt haben, verfügen nicht über eine mit Deutschland vergleichbare funktionierende Tarifautonomie und auch nicht über ein vergleich-bares Netz staatlicher sozialer Sicherungssysteme. Aus diesem Grund sehen auch Sozial-partner in anderen Ländern Europas mit einer ähnlich wie in Deutschland verankerten Sozial-partnerschaft eine solche Änderung der Zielsetzung des Mindestlohns kritisch.

Ein Mindestlohn von 12 Euro würde nach einer Auswertung des Statistischen Bundesamts in der zweiten Jahreshälfte 2022 in mindestens 125 Tarifverträge eingreifen und mehr als dop-pelt so viele Tariflohngruppen (311) direkt verdrängen. Diese anvisierte Erhöhung würde damit in bestehende Lohnstrukturen eingreifen und hätte massive Auswirkungen auf das System der Lohn- und Tariffindung. Sie kann die Motivation zum Abschluss von Lohntarifverträgen und zum Festhalten an branchenspezifischen tariflichen Mindestlöhnen senken.

Der Referentenentwurf widerspricht der vom Gesetzgeber im Mindestlohngesetz festgelegten Anpassungssystematik und insbesondere auch der aktuellen Anpassungsentscheidung der Mindestlohnkommission. Sozialpartner und Tarifparteien haben auf die quasi-tarifautonomie Findung des Mindestlohns vertraut und Tarifverträge und Lohnstrukturen daran ausgerichtet. Mit einer Erhöhung auf 12 Euro per Gesetz würde der Gesetzgeber seine eigene Systement-scheidung konterkarieren und das schutzwürdige Vertrauen in die Arbeit der Kommission und eine staatsferne Lohngestaltung nachhaltig beschädigen.

Zum Schutz der Tarifautonomie wären daher – wenn an der gesetzlichen Anhebung festgehal-ten werden sollte - Übergangsregelungen für bestehende Tarifverträge notwendig. Die Tarif-partner sollten für eine Übergangszeit die Möglichkeit haben, auf tarifautonomen Weg die 12 Euro zu erreichen. Der nächste Anpassungsschritt sollte nicht mit Wirkung vor dem 1. Januar 2025 erfolgen, um eine weitere Überforderung der Betriebe durch zwei Anhebung innerhalb kurzer Zeit zu vermeiden. Es muss daher sichergestellt werden, dass die Mindestlohnkommis-sion nicht vor dem 30. Juni 2024 entscheiden muss und eine mögliche weitere Anhebung des Mindestlohns nicht vor dem 1. Januar 2025 eingreift.