Digitalisierung: Schreckgespenst als guten Geist begreifen


BDA AGENDA 06/24 | KOMMENTAR DER WOCHE | 21. März 2024

Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph M. Schmidt , Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Professor an der Ruhr-Universität Bochum.

Nach einem eher geruhsamen Jahrzehnt muss die deutsche Volkswirtschaft wieder mehr Anstrengungen für ihren Wohlstand unternehmen. Unser hohes Wohlstandsniveau verdanken wir unserer globalen Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft, die immer wieder neu unter Beweis zu stellen sind.

Bereits heute spüren wir dabei den Fachkräftemangel als zunehmendes Hemmnis. Bislang begegnen wir ihm jedoch unzureichend, obwohl wir seit langem wissen, dass der demographische Wandel neben der drohenden Deglobalisierung und der unverzichtbaren Defossilisierung zu den großen Herausforderungen unserer Zeit gehört.

Im Zuge der Deglobalisierung werden Teile der Produktion in die Heimat rückverlagert, die bislang ausgelagert waren und so durch die Ausweitung und Diversifikation der Lieferketten eine effiziente und sichere globale Arbeitsteilung ermöglicht hatten. Die Deglobalisierung gefährdet somit vor allem die auf hoher Ingenieurskunst und tiefgreifender Spezialisierung beruhenden Geschäftsmodelle global operierender Unternehmen, die Deutschland von anderen Volkswirtschaften abheben und ein hohes Lohnniveau gewährleisten. Darüber hinaus erfordert die Defossilisierung massive Investitionen mit unsicheren Renditeaussichten, um im Sinne der globalen Nachhaltigkeit unsere Energiesysteme vollständig umzubauen.

Häufig wird die Digitalisierung als weitere große Herausforderung genannt: Die Aussicht auf eine digitale Arbeitswelt löst bei vielen Menschen Sorgen aus. Die Angst vor einer Verdrängung menschlicher Tätigkeit durch Maschinen sitzt tief. Das ist verständlich, denn technologische Neuerungen und neue Organisationskonzepte können nur dann den Wohlstand steigern, wenn sie in der betrieblichen und gesellschaftlichen Praxis zu einem Strukturwandel mit spürbaren Veränderungen führen. Würden alle dasselbe machen wie bisher, nur jetzt mit einem Laptop ausgestattet, gäbe es keinen Fortschritt. Wohlstandswachstum erfordert, die knappe Ressource Zeit effizienter einzusetzen als zuvor.

Darüber hinaus wird der Verlust von bereits Erreichtem der Verhaltensökonomik zufolge oft intensiver empfunden als Zugewinne. Doch die häufig anzutreffende Skepsis gegenüber der Digitalisierung spiegelt die tatsächlichen Erfahrungen keineswegs wider. Fortgeschrittene Volkswirtschaften weltweit verdanken ihr heutiges Wohlstandsniveau vor allem ihrer Innovationskraft – und ihrer Bereitschaft zum Strukturwandel. Unternehmerischer Wettbewerb, bei dem Konkurrenten bislang erfolgreiche Anbieter aus dem Markt drängen, ist der Motor dieses Wachstums. Entscheidend dafür, dass diejenigen, die sich dabei anpassen müssen, an diesem Fortschritt teilhaben, ist, wie gut es gelingt, soziale Härten abzufedern – ohne den Wandel durch Erhaltungssubventionen zu verhindern. Wie gut, dass wir hierzulande einen starken Sozialstaat haben. Da sollten wir uns von linken wie rechten Populisten nichts vormachen lassen – und die Digitalisierung als Fortschrittsmotor umarmen.