Deutschland braucht eine neue Arbeitszeitrealität

BDA AGENDA 11/25 | KOMMENTAR DER WOCHE | 28. Mai 2025

Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)

Die Arbeitswelt in Deutschland befindet sich im Umbruch. Zwar verzeichneten wir Mitte 2024 mit rund 46 Millionen Erwerbstätigen einen historischen Höchststand – noch nie haben im vereinten Deutschland mehr Menschen gearbeitet. Auch das Arbeitsvolumen ist auf Rekordniveau. Doch diese Zahlen erzählen nur einen Teil der Geschichte. Von den meisten (noch) unbemerkt, steht der Arbeitsmarkt vor tiefgreifenden Veränderungen.

Die demografische Welle rollt: Bis 2036 gehen etwa 20 Millionen Menschen der Babyboomer-Generation in den Ruhestand. Dem steht lediglich eine potenzielle Erwerbsbevölkerung von rund 12,5 Millionen Jüngeren gegenüber. Der Arbeitsmarkt dreht sich spürbar – der Rückgang der Erwerbstätigenzahl in jüngster Zeit markiert erst den Anfang eines strukturellen Trends, der sich in den kommenden Jahren weiter verstärken wird.

Gleichzeitig gerät ein zweiter Pfeiler unserer ökonomischen Leistungsfähigkeit unter Druck: die Produktivität. In den vergangenen beiden Jahren ist die Arbeitsproduktivität so stark gesunken wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Das ist kein temporäres Phänomen, sondern ein alarmierender Befund mit weitreichenden Folgen.

Es sind zwei Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken – und die grundlegende Frage aufwerfen, wie wir unseren erreichten Wohlstand für künftige Generationen sichern können.

Die Antwort darauf kann nur lauten: Wir müssen alle verfügbaren Potenziale mobilisieren – und dazu zählt auch ein neuer, realistischer Blick auf die Arbeitszeit. Vergleicht man die Arbeitszeit der Deutschen im Erwerbsalter international, zeigt sich ein klares Bild: In kaum einem Industrieland wird pro Kopf so wenig gearbeitet wie hierzulande. Ein Blick auf die Jahresarbeitszeiten zeigt: Spanier arbeiten im Schnitt rund 30 Stunden mehr, Griechen über 130 Stunden, Polen sogar mehr als 260 Stunden.

Während andernorts die Arbeitszeit pro Kopf gestiegen ist, hat sie sich in Deutschland kaum bewegt. Das ist kein Naturgesetz. Es ist das Zusammenspiel von Institutionen, Rahmenbedingungen und Anreizen, die in ihrer heutigen Form nicht mehr zur demografischen Realität passen. Sie müssen überdacht werden.

Es braucht politische Bereitschaft, auch unbequeme Fragen zu stellen: Etwa nach der Zahl der Feiertage, der starren täglichen Höchstarbeitszeit oder dem frühen Ausstieg vieler aus dem Erwerbsleben. Auch die hohe Teilzeitquote – insbesondere unter Frauen – bleibt ein strukturelles Hemmnis für mehr Arbeitsvolumen. Wer ernsthaft Wohlstand sichern will, muss hier in der Breite ansetzen.

Sicher: Mehr Arbeit ist kein populäres Thema. Aber ohne eine breitere Beteiligung am Arbeitsleben – sei es in Form höherer Stundenzahlen, längerer Lebensarbeitszeit oder einer stärkeren Integration bisher unterrepräsentierter Gruppen – wird sich der Wohlstand in einer alternden Gesellschaft nicht halten lassen. Es ist Zeit für eine neue Arbeitszeitrealität – und diese beginnt mit einem offenen, faktenbasierten Diskurs über das, was notwendig ist. Die Debatten der vergangenen Wochen deuten bedauerlicherweise allerdings an, dass „die üblichen Verdächtigen“ immer noch ideologisch eingemauert argumentativ verharren und die Empirie ignorieren. Das werden wir uns – wie auf vielen anderen politischen Feldern – nicht mehr lange leisten können. Nur Mut also – wie lautete der berühmte Satz von Ingeborg Bachmann schon vor über 60 Jahren?: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“.


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