Johannes Vogel,
stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP und Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion
Quelle: FAZ vom 4. Juni 2023
Die ohnehin schon hohe Belastung von Löhnen und Gehältern wird in den kommenden Jahrzenten voraussichtlich deutlich steigen. Auf Basis des derzeit geltenden Rechts könnte der Beitragssatz auf bis zu 53 % bis zum Jahr 2040 steigen. Dies erzeugt massive Risiken für die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die wirtschaftliche Entwicklung im Inland mit ungünstigen Auswirkungen auf die Beschäftigung und gefährdet den gerechten Ausgleich zwischen den beteiligten Generationen. Das zeigen zahlreiche Berichte, u.a. der Bericht der BDA-Kommission zur Zukunft der Sozialversicherung unter Leitung von Professor Dr. Werding (Ruhr Universität Bochum) und das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz zur nachhaltigen Finanzierung von Pflegeleistungen.
Zum 1. Juli 2023 addieren sich die Beitragssätze in der Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung auf 40,8 % - für Versicherte ohne Kinder sogar auf 41,4 %. Sie lagen damit erstmalig seit zehn Jahren wieder über der 40-%-Marke. Gegenüber dem Vorjahr nahm die Beitragsbelastung um 0,85 Prozentpunkte zu, weil nicht nur der Zusatzbeitragssatz zur Krankenversicherung gestiegen ist, sondern auch der Pflegeversicherungsbeitragssatz zum 1. Juli 2023 angehoben wurde. Der befristet abgesenkte Arbeitslosenbeitrag ist ebenfalls regulär zu Jahresbeginn gestiegen.
Nach § 28d SGB IV umfasst der Gesamtsozialversicherungsbeitrag alle auf das Arbeitsentgelt bezogenen Beiträge zu den von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam finanzierten Sozialversicherungszweigen, also der Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung. Auch der durchschnittliche Zusatzbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung (1,6 %) und der zum 1. Januar 2005 eingeführte und seit dem 1. Juli 2023 erhöhte Beitragszuschlag für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung (0,6 %) gehören damit zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag.
Wir brauchen einen klaren Fahrplan, wie die Beitragssätze wieder auf unter 40 % begrenzt werden. Wir brauchen auch in der Sozialversicherung ein Bewusstsein für langfristiges Denken und nachhaltige Entscheidungen. Wie beim 1,5-Grad-Ziel in der Klimapolitik braucht es für die Sozialversicherungen ein griffiges Nachhaltigkeitsziel. Ein Stoppschild in Form einer Obergrenze bei den Sozialbeiträgen kann hierzu wesentlich beitragen. Einmal im Jahr sollte die Bundesregierung außerdem einen Bericht über die Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme abgeben. Das stärkt die Transparenz, fördert Reformdebatten und ermutigt zu langfristigen Entscheidungen.
Die BDA setzt sich deshalb – in ihren Grundsatzpositionen, Stellungnahmen und Veröffentlichungen – dafür ein, die Leistungen aller Zweige der Sozialversicherung auf eine Basissicherung zu konzentrieren und die darüber hinaus gehenden Ansprüche vom Einzelnen selbst zu finanzieren. Das ist ohne Beeinträchtigung der sozialen Sicherung und ohne finanzielle Überforderung der Betroffenen möglich, zumal sinkende Zwangsabgaben auch zusätzliche Handlungsspielräume schaffen.
Das Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität muss wieder in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden. Die Solidargemeinschaft darf nur da eintreten, wo Einzelne sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Die stärkere Betonung des Subsidiaritätsprinzips schafft nicht nur mehr Leistungsgerechtigkeit, sondern hält darüber hinaus den Sozialstaat langfristig finanzierbar.
Sozialleistungen steigen weiter
Gegenüber 2021 haben sich die Sozialausgaben (Leistungsausgaben) 2022 um 2,2 % erhöht. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), das im vergangenen Jahr um 7,4 % auf 3.869,9 Mrd. € stieg, ergibt sich daraus zwar eine Sozialleistungsquote von 30,5 % (2021: 32,0 %). Diese Entwicklung ist aber keinesfalls beruhigend. Das BIP ist mit dem Abklingen der Corona-Krise und nach dem Minus von 2 % (2020) besonders stark gestiegen (2021: 5,8 % und 2022: 7,4%). Die sinkende Sozialleistungsquote ist also nicht das Ergebnis eines sparsamen Staates.
Vielmehr ist der Sozialstaat schon vor den aktuellen Krisen (Corona-Nachwirkungen, Ukraine-Krieg, demografischer Wandel und Klimakrise) deutlich überproportional gewachsen – und dies trotz eines langen Aufschwungs und Rekordbeschäftigung. Umso mehr gilt jetzt, dass Solidarität und Subsidiarität – mit Blick auf eine nachhaltige und generationengerechte Politik – wieder in ein angemessenes Verhältnis gebracht werden müssen.
Erklärvideo zum Thema:
Obergrenze von 40% bei Sozialbeiträgen verbindlich einhalten
Arbeitgeber tragen den Sozialstaat
Laut Sozialbudget der Bundesregierung lag der Finanzierungsanteil der Arbeitgeber an allen Sozialleistungen mit 33,8% unter dem des Staates (34,1%) und höher als die Sozialbeiträge der Versicherten (30,4%). Seit der Corona-Krise und der notwendig gewordenen Zusatzfinanzierung durch den Staat für u.a. Entschädigungen, Impfstoffe und Testangebote liegt der Staat bei den Finanzierungsausgaben minimal vor den Arbeitgebern. Mit Auslaufen der letzten Corona-Maßnahmen geht man aber davon aus, dass wieder die Arbeitgeber die größten Financiers des Sozialstaats werden.