Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin „Demokratie stärken“, Gemeinnützige Hertie-Stiftung:
Von den Neuen lernen
BDA AGENDA 21/22 | KOMMENTAR DER WOCHE | 27. Oktober 2022
Im Herbst 2022 überprüfen viele Bürger mit Vorsicht und Skepsis ihre Pläne für den Winter. Als wären die geostrategischen und energiepolitische Krisen sowie eine nicht überstandene Corona-Pandemie noch nicht herausfordernd genug zeichnet sich aktuell auch noch eine zusätzliche Herausforderung durch Flüchtende aus der Ukraine ab. Das Jahr 2015 dürfe sich nicht wiederholen, wird gewarnt. Das hässliche Wort vom Sozialtourismus, erst ausgesprochen, dann relativiert vom Unionsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz steht im Raum. In einer Zeit, in der Offenheit und Toleranz besonders wichtig wären, um die Herausforderungen der Gegenwart gut zu bewältigen, messen Demoskopen ein abnehmendes Vertrauen in Institutionen und Personen.
Ein guter Zeitpunkt, um Aufmerksamkeit zu schaffen für Menschen, die tatsächlich gerade aus der Ukraine kommen. Nach Deutschland geflüchtete ukrainische Schüler und Studenten beispielsweise, die die Hertie-Stiftung fördert. Junge Menschen, die einen Neustart an deutschen Schulen und Universitäten schaffen, den viele ihrer hetzenden Kritiker niemals bewältigen würden. Viele sind mehrsprachig aufgewachsen, wechseln jetzt zwischen russisch, ukrainisch, deutsch und englisch. Sie jobben neben dem Studium, um ihre Familien zu unterstützen, helfen anderen Geflüchteten mit Übersetzerdiensten, lächeln Diskriminierungserfahrungen weg, glauben an den liberalen Westen.
Kann es sein, dass Deutschland gerade mindestens so viel von diesen Menschen lernen kann wie umgekehrt? Und: Was lernen wir eigentlich daraus, dass Willenskraft, Freiheitsliebe und Standhaftigkeit der Ukrainer schon nach Ausbruch des Krieges unterschätzt wurden, als es um die Dauer des Krieges ging, die vermeintliche Überlegenheit der russischen Aggressoren ? Wäre nicht die richtige Konsequenz, etwas demütiger zu sein, mit Respekt auf die neuen Migranten zu schauen, sie zu stützen und zu feiern?
Jetzt wäre auch ein guter Zeitpunkt, ein paar Begriffe aus vergangenen Gerechtigkeitsdiskussionen neu zu entdecken, die Idee von sozialer Mobilität und Chancengerechtigkeit beispielsweise. Fast alle Diskussionen rund um die Gestaltungen der Einwanderungsgesellschaft werden von kulturellen Frage rund um Sprache und Identität bestimmt. Geht es um Fragen sozialer Ungleichheit streiten Experten um die korrekte Erfassung des Status Quo, seltener um Chancen. Die Meritokratie mit ihrer Idee der Leistungsgerechtigkeit hat mittlerweile einen schlechten Ruf. Sie sei schuld an der schwindenden Akzeptanz der Demokratie behaupten renommierte Wissenschaftler wie der Sozialphilosoph Michael Sandel, der darüber den Bestseller „The Tyranny of Merit“ schrieb. Sie vermittle der Mehrheit, die den sozialen Aufstieg nicht schaffe und auch nicht schaffen könne neben materiellen Themen auch noch ein Gefühl der Unzulänglichkeit.
In dieser Situation steht die Politik in Deutschland an einem Scheideweg: Einer Koalition, in der Sozialdemokraten und Liberale koalieren, müsste das alte Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft eigentlich ein zentrales Anliegen sein. Sich gut integrierende Migranten wären gute positive Role Models. Funktionierende Programme für den Spracherwerb schon im Kita-Alter sollten eine Top Priorität sein, kein Gegenstand für Sparprogramme.
In Zeiten rapider erzwungener Transformation steigt zwangsläufig die Sehnsucht nach Stabilität. Bleibt etwas wie immer ist das schon ein Wert an sich. Dass die Bevölkerung rasend schnell altert macht Innovationen nicht leichter. Für die mächtige Generation der Babyboomer ist die Frage nach dem Aufstieg in der Regel meist kein persönliches Anliegen mehr.
Dass in dieser Situation zupackende, aufstiegsorientierte Ukrainer nach Deutschland kommen, ist eine Chance. Sie zu zeigen, ihre Geschichten zu erzählen sollten sich alle vornehmen, dass das Land eine gute Zukunft hat.