Die Lebensarbeitszeit muss dringend steigen

BDA AGENDA 16/25 | KOMMENTAR DER WOCHE | 04. August 2025
Von Prof. Dr. Niklas Potrafke, Leiter des Zentrum für öffentliche Finanzen und politische Ökonomie am Münchener ifo Institut
Der Rentenvorstoß von Bundeswirtschaftsministerin Reiche war stark und absolut richtig. Endlich greift ein Mitglied aus der Bundesregierung die Debatte auf, die wir in Deutschland so dringend brauchen: Die Lebensarbeitszeit muss verlängert werden.
Länger zu arbeiten als bislang gefällt den meisten Bürgern nicht. Das ist verständlich. Unabdingbar ist es dennoch. Weil den Bürgern die Auswirkungen des demographischen Wandels nicht vollständig bewusst sind und sie Rentenreformen mehrheitlich ablehnen, trauen sich die Politiker nicht, die nötigen Rentenreformen anzupacken.
Die Politik hat versäumt, das Renten- und Pensionseintrittsalter stetig an die Lebenserwartung anzupassen. Nun ist die Gelegenheit wieder da. Die Fakten liegen auf dem Tisch.
Das deutsche Rentensystem ist nach dem Umlagesystem aufgebaut. Die jetzt Jungen zahlen die Renten der jetzt Alten. Das Umlageverfahren funktioniert nur, wenn genügend junge Beitragszahler nachkommen und sie durch Produktivitätszuwächse höhere Löhne bekommen und dann über die an die Löhne gekoppelten Beiträge auch kräftig ins Rentensystem einzahlen können. Die Rendite des Umlageverfahrens ist schließlich die Wachstumsrate der Lohnsumme, die sich aus dem Wachstum der Bevölkerung und der Löhne zusammensetzt.
Das Problem in Deutschland ist, dass die Bevölkerung eben nicht wächst und auch unser Produktivitätswachstum - und damit der Anstieg der Löhne - dürftig ist.
Bevölkerungs- und Produktivitätswachstum bedingen sich auch gegenseitig: Alte Gesellschaften sind weniger innovativ und dynamisch als junge Gesellschaften. Es gibt weniger gute Ideen in Forschung und Entwicklung, weniger Unternehmensgründungen und so weiter.
Dass die Alterung der Gesellschaft die Produktivität und das Wirtschaftswachstum drosselt, geht im öffentlichen Diskurs rund um die Rente und die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland oft unter.
Wenn bei dieser ungünstigen Entwicklung von Bevölkerung und Produktivität in einem Umlagesystem folglich die Einnahmen sinken oder langsamer steigen, wäre es nur folgerichtig, wenn auch die Ausgaben (Renten) sinken oder langsamer steigen.
Das passiert in Deutschland aber seit Jahrzehnten nicht. Stattdessen werden vermehrt Steuerzuschüsse, also Bundesmittel, in die Rentenkasse gesteckt. Gegenwärtig sind es weit mehr als 100 Milliarden Euro an Steuerzuschüssen jedes Jahr, Tendenz steigend.
Das viele Geld, welches durch Bundesmittel in die Rentenkasse fließt, fehlt bitterlich an anderer Stelle in den öffentlichen Haushalten. So sind etwa die Straßen und Brücken marode und Deutschland kann sich nicht verteidigen.
Es kann nicht wahr sein, dass wir diesen Zustand dulden, nur weil Deutschland nicht hinbekommt, so dringende Strukturreformen wie ein höheres Renten- und Pensionseintrittsalters anzupacken. Hier muss sich etwas ändern.
Dies wäre die wohl wichtigste Strukturreform. Die Koalition muss sie auch wegen der aktuell steigenden Neuverschuldung umzusetzen, um die Lasten beherrschbar zu halten.
Hinweis: Dies ist eine gekürzte Version des Textes „Bravo, Frau Reiche: Die Lebensarbeitszeit muss dringend steigen“, der am 30. Juli im Handelsblatt erschienen ist.
Der Autor: Niklas Potrafke lehrt Volkswirtschaftslehre an der LMU München und leitet das Zentrum für öffentliche Finanzen und politische Ökonomie am Münchener ifo Institut.