Berlin, 10. Januar 2021. Arbeitgeberpräsident Dr. Rainer Dulger im Interview mit der Frankfurter Allgmeinen Sonntagszeitung über Grenzen des Homeoffice, Pandemieschutz im Betrieb und die Perspektive für die Zeit nach Corona - und warnt vor weiteren Einschränkungen:
Herr Dulger, ermöglichen die Arbeitgeber zu wenig Homeoffice?
Überall, wo Homeoffice möglich ist, haben die Unternehmen dies auch ermöglicht. Oft wird übersehen, dass Fertigungsbetriebe und auch viele Dienstleistungen nur laufen, wenn die Beschäftigten auch in den Betrieben vor Ort sind. Bei dem Thema dürfen wir also nicht in eine Elitediskussion verfallen, die an der Realität vorbeigeht. Wenn ich beispielsweise in meinen eigenen Betrieb schaue: Da stehen Leute an den Maschinen, damit wir unsere Produkte ausliefern können. Das geht nun mal nicht im Homeoffice.
Die Lage hat sich verändert. Derzeit sind nur etwa halb so viele Beschäftigte im Homeoffice wie im Frühjahr. Warum?
Im Frühjahr wurden zu Recht viele Beschäftigte ins Homeoffice geschickt. Keiner hatte Erfahrung mit dem Virus. Und in den Betrieben waren nicht die Hygienekonzepte ausgerollt. Das hat sich geändert. Heute beobachte ich bei meinen Mitarbeitern, die einer Bürotätigkeit nachgehen, zumindest einen Trend, dass man nach einer langen Phase daheim gerne mal wieder in den Betrieb kommt, um auch mal wieder die Kollegen zu sehen – zwar nur mit Abstand, aber immerhin.
Lässt sich der Infektionsschutz in den Betrieben noch verbessern?
Wir haben in den vergangenen Monaten gemeinsam mit unseren Beschäftigten viel erreicht, um die Arbeit in Corona-Zeiten sicher zu machen. Dazu gehörten Pandemiepläne, vielfältige Homeoffice- und Datenschutzregelungen und tarifliche Vereinbarungen. In unserem eigenen Unternehmen haben wir alles getan, was möglich ist: Wir haben beispielsweise die Reinigungsfrequenzen erhöht, Einbahnstraßensysteme eingeführt, seit Februar die Kantine geschlossen. Wir hatten bisher keine nachvollziehbare Ansteckung am Arbeitsplatz, auch sonst war die Infektionsquote gering.
Irgendwo müssen sich die Leute ja anstecken. Es gibt nun Forderungen, alle Betriebe für zwei Wochen zu schließen. Dann wäre der Lockdown immerhin schneller vorbei.
Das ist doch absurd. Sie können doch nicht alle Betriebe schließen. Die Menschen müssen weiterhin versorgt und das Land am Laufen gehalten werden. Zudem treiben Sie Unternehmen, die jetzt schon an der Kippe stehen, in die Insolvenz. Wenn Sie zwei Wochen keine Einnahmen haben, verschärfen Sie die schwierige wirtschaftliche Lage, in der wir uns befinden. Wir müssen die Menschen pandemiegeschützt, so gut es geht, in Brot und Arbeit halten. Nur mit Wertschöpfung können wir unsere Sozialsysteme am Leben halten, die im Moment alle versorgen.
Im Dezember waren Sie noch gegen eine Ladenschließung, Ihr Vorgänger fand schon den laxen November-Lockdown zu scharf. Tragen die Arbeitgeber eine Mitverantwortung für die hohen Infektionszahlen?
Wenn ich mir die überfüllten Skipisten in manchen Teilen Deutschlands ansehe und zugleich der Einzelhandel und die vielen Gastronomiebetriebe geschlossen werden, stelle ich fest: Da gibt es offensichtlich eine Unverhältnismäßigkeit. An Tankstellen und in Supermärkten kann man mit Maske und mit einer bestimmten Personenzahl ins Geschäft und mit Abstand an der Kasse bezahlen. Warum kann das nicht genauso im Einzelhandel gehen? Die Politik droht die Menschen über diese Ambivalenz zu verlieren. Unsere Position war und ist: Man sollte die einschränkenden Maßnahmen so schnell wie möglich lockern, aber mit klugen Hygiene- und Schutzkonzepten.
Finden Sie die neuerliche Verschärfung des Lockdowns richtig?
Grundsätzlich ja. Aber die einzelnen Maßnahmen müssen natürlich immer wieder neu bewertet werden. Es ist jetzt an der Zeit, nach vorne zu schauen und mit der Politik über die Post-Corona-Zeit zu sprechen. Wir müssen aus unseren Erfahrungen lernen. Wir erleben im Moment, wie das Bundeskanzleramt mit 16 Ministerpräsidenten und ein paar Virologen immer nur über die nächsten zwei, drei Wochen redet. Wir müssen aber darüber sprechen, wie es in den nächsten Monaten weitergeht, unter angemessener Berücksichtigung der Sichtweise aus der Praxis in den Betrieben. Deshalb muss die Politik in einer konzertierten Aktion die Sozialpartner bei der Frage miteinbeziehen: Wie geht es im März, April, bis in den August weiter?
Auch für die Zeit nach der Pandemie sind Fragen offen.
Das sind doch die entscheidenden! Statt immer nur auf Sicht zu fahren, brauchen wir eine langfristige Post-Corona-Strategie. Wir haben eine Herausforderung, die vielleicht größer ist als die nach der Wiedervereinigung – jetzt sogar auch noch mit globaler Dimension. Damals gab es einen umfassenden Reformprozess mit klarer Stoßrichtung, das wäre auch jetzt angezeigt. Das Geld, das wir gerade verlieren, muss ja wieder erwirtschaftet werden. Deshalb brauchen wir nicht nur ein Belastungsmoratorium, sondern eine Entfesselungsoffensive. Die Politik darf nicht immer neue Anforderungen an uns Arbeitgeber stellen.
In der Krise haben die Unternehmen nach Hilfe vom Staat gerufen. Wird er sich hinterher einfach wieder zurückziehen?
Die Hilfspakete waren gut und wichtig. Aber sie werden wieder verschwinden, wenn wir in ein normales Leben zurückkehren. Dann muss das Geld zurückgezahlt werden – von den Unternehmen an den Staat, aber auch vom Staat an seine Kreditgeber. Das funktioniert nur, wenn die Wirtschaft richtig brummt. Deshalb müssen wir auch dringend die Digitalisierung vorantreiben. Wie wichtig das ist, haben wir in der Krise gesehen.
Von der Digitalisierung spricht jeder. Was heißt das konkret?
Ich sitze gerade im Odenwald und muss mit Ihnen am Telefon sprechen, weil die Internetleitung für eine Videokonferenz nicht ausreicht. Künftig muss es auch in ländlichen Regionen möglich sein, mobil zu arbeiten oder einen Industriebetrieb zu unterhalten. Es ist in Deutschland immer das Gleiche: Bei der theoretischen Erkenntnis sind wir Riesen, beim praktischen Handeln sind wir Zwerge. Bei der digitalen Infrastruktur läuft es langsam in die richtige Richtung, wenn ich sehe, dass hier in der Gegend überall Glasfaserkabel vergraben werden. So muss es bei anderen Themen auch laufen.
Mit den Kabeln ist die Digitalisierung doch noch nicht erledigt.
Natürlich nicht! Das Megathema Digitalisierung ist so vielfältig: Digitalisierung ist ein Flexibilitätsthema, ein Wettbewerbsthema, ein Bildungsthema, ein Gründerthema, also vor allem ein gesellschaftliches Thema. Nehmen Sie allein die Bildung: Hier brauchen wir digitalen Highspeed statt Kultusbürokratie. Hier entscheidet sich unsere Zukunft, da stehen wir im Wettbewerb mit anderen Industrienationen. Auch die Betriebe müssen rasend schnell digitale Lösungen für ihre Kunden entwickeln. Denken Sie an selbstfahrende oder elektrisch betriebene Autos.
Da standen die deutschen Autobauer aber nicht an der Spitze.
Keiner steht immer an der Spitze. Wichtig ist, dass wir vorne mitspielen. Da habe ich überhaupt keine Sorge. Ein Großteil der Patentanmeldungen für Selbstfahrfunktionen kommt aus Deutschland. Aber dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen, dass die Fabriken für das Auto der Zukunft auch in Deutschland stehen.
Das spektakulärste Werk wird von einem Amerikaner gebaut.
Ja und? Wir müssen weg von nationalen Sichtweisen. Deutsche Unternehmen haben in China Hunderte von Fabriken gebaut, und ich kann mich nicht erinnern, dass das den Chinesen unangenehm war. Schauen Sie doch mal, wem ein Großteil von Mercedes oder von Siemens gehört. Wir leben in einer globalisierten Welt, der nationale Alleingang hat ausgedient. Hauptsache, die Fabriken stehen hier bei uns, und die Arbeitsplätze von morgen entstehen in Deutschland. Und dafür müssen die Rahmenbedingungen stimmen, nicht nur bei der Infrastruktur.
Sondern?
Wir müssen jetzt Zukunft schaffen! Die Agenda 2020 war gestern. Hierzu gehört vor allem, die Demographie nicht weiter zu ignorieren, oder unsere Ausgaben für Soziales. Wir müssen die Lohnnebenkosten bei 40 Prozent deckeln, am besten in einem Gesetz mit Verfassungsrang. Sonst werden uns die Sozialkosten über den Kopf wachsen, und das wird den Wirtschaftsstandort Deutschland schwächen.
Gerade erst haben viele Krankenkassen ihre Beiträge erhöht. Wie wollen Sie da gegensteuern?
Die Löhne und Gehälter steigen doch auch, und die Zahl der Beschäftigten ist fast so hoch wie noch nie. Wir haben kein Problem bei den Einnahmen, sondern bei den Ausgaben.
Sparen bei der Gesundheit ist nach der Pandemie kein beliebtes Thema.
Dann fangen wir doch mal mit der Rente an. Schauen Sie: Ich bin 1964 geboren, das ist der geburtenstärkste Jahrgang – ich gehöre zu der Babyboomer-Generation. Damit ist klar: Spätestens in zehn Jahren wird ein Missverhältnis zwischen Empfängern und Beitragszahlern entstehen, der Druck auf unsere sozialen Sicherungssysteme wird aufgrund dieses demographischen Wandels immer stärker werden. Deshalb muss das Renteneintrittsalter angehoben werden.
Welches Alter schwebt Ihnen vor?
Das kann ich Ihnen hier und heute nicht sagen. Meine Generation hat die Verantwortung, länger zu arbeiten, wo sie kann und wo es möglich ist. Wir müssen die Grenze überall dort anheben, wo die Menschen länger arbeiten können und wollen. Natürlich gibt es auch Berufe, in denen können sie nicht ewig arbeiten, das ist klar.
Sie wollen den Renteneintritt also flexibler machen?
Warum nicht? Diese Diskussion müssen wir ehrlich führen. Es gibt keine Alternative, als dass die Kosten aus der Alterung der Gesellschaft auf die Generationen verteilt werden – denn nur so kann das langfristige Vertrauen in die gesetzliche Rente erhalten werden.