Berlin, 6. Mai 2021. Wenn beim Sozialgipfel in Porto die Spitzen der EU, die Staats- und Regierungschefs sowie die Sozialpartner zusammenkommen, dann soll vor allem ein politisches Signal gesendet werden: Europa muss sozialer werden. Diese Devise ist keine Überraschung. Der sozialen Dimension Europas hat die Politik in jüngster Zeit stets mehr Bedeutung zugemessen. Und das nicht erst, seit der digitale und ökologische Wandel sowie die Pandemie die Arbeitswelt vor neue Herausforderungen stellen. Auch die Staatsschuldenkrise hatte schon für einen Fokus auf diesem Gebiet gesorgt.
Es ist richtig, die sozialen Fragen unserer Zeit verstärkt zu adressieren. Wir Arbeitgeber stehen dahinter. Aber: Ein soziales Europa und eine Sozialunion sind nicht dasselbe. Arbeitgeber bekennen sich entschlossen zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, während einzelstaatliche Unterschiede respektiert werden. Eine Sozialunion, basierend auf einer unrealistischen und daher unsozialen Sozialpolitik durch Richtlinien und Verordnungen, ist nicht geeignet, Europa vorwärtszubringen. Die unterschiedlichen, historisch gewachsenen Arbeitsmarkt- und Sozialsysteme können nicht einfach eingeebnet werden.
Eine Soziale Marktwirtschaft, die auch im Erhard’schen Sinne Wettbewerbsfähigkeit mit sozialem Ausgleich verbindet, muss auch für Europa Leitbildcharakter haben. Das Fundament des Sozialgipfels in Porto – die rechtlich unverbindliche „Europäische Säule sozialer Rechte“ durch konkrete Gesetzgebung umzusetzen – führt uns in eine Sozialunion. Es ist erschreckend, wie die Europäischen Verträge, die eine nationale Zuständigkeit für die Sozialpolitik festlegen, überdehnt werden, um vermeintlich passende Rechtsgrundlagen für neue sozialpolitische EU-Gesetzgebung zu finden.
Es besteht die Gefahr, dass wir in unserem Eifer, Wirtschaft und Gesellschaft vermeintlich zu verbessern, gut funktionierende und etablierte Arbeitsmarkt- und Sozialmodelle aus dem Lot bringen. Zum Beispiel könnte die aus Sozialpartnern bestehende deutsche Mindestlohnkommission nicht mehr entscheiden wie bislang, wenn wahr wird, was europäische Parlamentarier und die Kommission mit Blick auf eine EU-Mindestlöhne-Richtlinie fordern. Die zugleich vorgeschlagene Zielmarke einer Tarifbindung von 70 oder sogar 90 Prozent ist nicht nur vollkommen praxisfern, sondern widerspricht der negativen Koalitionsfreiheit: Niemand darf in Deutschland zum Eintritt in eine Gewerkschaft oder einen Arbeitgeberverband gezwungen werden. Die unlautere Alternative der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gefährdet Sozialpartnerschaft, statt sie zu schützen. Eine Mindestlöhne-Richtlinie mit diesen Inhalten wäre keine sozialpolitische Wohltat, sondern eine Anmaßung.
Ein soziales Europa akzeptiert die entscheidende Rolle der Wirtschaft für sozialen Fortschritt. Eine Sozialunion hingegen idealisiert naiverweise die Möglichkeit sozialer Verbesserung ohne wirtschaftliche Grundlage. Das macht sie gefährlich. Denn die Bedeutung wirtschaftlicher Stabilität ist angesichts der Covid-19-Pandemie nur noch deutlicher geworden: Es braucht Wirtschafts- und Strukturreformen in den Mitgliedstaaten, um Stabilität durch mehr Beschäftigung und flexiblere Arbeitsmärkte zu sichern. Die im Zuge des Wiederaufbaus geplanten 750 Milliarden Euro Schulden der EU werden andernfalls allein zu Ballast für nachfolgende Generationen, ohne Wachstumskräfte zu entfesseln. Der Sozialgipfel droht ein falsches Signal zu setzen.
Auch die Vollendung des Binnenmarktes verdient einen stärkeren Fokus. Das sozialpolitische Credo muss heißen: Sowohl Arbeitnehmer als auch Unternehmen profitieren davon, Teil des Binnenmarktes zu sein und dessen Möglichkeiten ausschöpfen zu können. Er ist und bleibt Europas Motor für Arbeitsplätze, Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Durch die aktuelle Entsenderichtlinie wird aber neuer Protektionismus im Binnenmarkt geschaffen. Die geistigen Enkel von Jacques Delors sind im Rückzug begriffen, statt Meinungsführerschaft zu entwickeln.
Die EU sollte ein soziales Europa anstreben, in dem die Mitgliedstaaten die richtige Unterstützung erhalten, um soziale Standards und Wirtschaftswachstum zu sichern. Es ist wichtig, ein neues Gleichgewicht zwischen mitgliedstaatlichen und europäischen Ambitionen in der Sozialpolitik zu finden: Der Versuch, in diesem sensiblen Bereich für alle Mitgliedstaaten akzeptable legislative Schablonen der EU zu finden, führt selten zu befriedigenden Ergebnissen.
Wenn das politische Europa in Porto zusammenkommt, um die soziale Dimension der EU zu diskutieren, müssen wir das adressieren. Warum wagen wir nicht die breitere politische Perspektive? Eines ist doch offenkundig: Vor allem eine starke Wirtschaft ist die Grundlage für ein soziales Europa.
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