Volle Arbeitszeiterfassung in Vertrauensarbeitszeitmodellen – kein Modell von Morgen
BDA AGENDA 3/23 | KOMMENTAR DER WOCHE | 9. Februar 2023
Dr. Michael Niggemann, Mitglied des Vorstandes für Personal und Infrastruktur
sowie Arbeitsdirektor der Deutschen Lufthansa AG
Ein moderner Arbeitszeitrahmen muss sich an den Erfordernissen der deutschen Wirtschaft und zunehmend diversen Tätigkeitsbildern orientieren. Die abstrakten Ziele der Reform von 1994 sollten auch heute gelten: „Mit dem Gesetzentwurf sollen […] die Rahmenbedingungen für flexible und individuelle Arbeitszeitmodelle verbessert werden.“ Dies muss auch heute weiterhin Umsetzungsmaßstab sein.
Die wenige Wochen vor Weihnachten veröffentlichten Beschlussgründe des BAG zur Arbeitszeiterfassung haben Unsicherheiten für die Unternehmenspraxis auch mit Blick auf die avisierte gesetzgeberische Aktivität in diesem Zusammenhang gebracht. Das gilt besonders für die nicht in Dienst‐ und Schichtplänen bzw. mit klassischer Arbeitszeiterfassung arbeitenden Beschäftigten. Das ist bei der Deutschen Lufthansa AG immerhin jeder vierte Bodenbeschäftigte. Hier droht ein Eingriff in bestehende und gerechtfertigte Freiheiten. Dies entspricht in etwa dem Anteil der Beschäftigten, die in Deutschland regelmäßig mobil bzw. aus dem Homeoffice arbeiten. Häufig sind dies Mitarbeitende, die ihre Arbeitsinhalte in großen Teilen eigenverantwortlich und ergebnisorientiert gestalten können.
Die BAG‐Entscheidung trifft insoweit auf eine gelebte Unternehmenswirklichkeit, die durch vielfältige kollektive Regelungen zu Vertrauensarbeitszeitmodellen seit Jahrzehnten geprägt ist. Das „Vertrauen“ in diese Modelle bedeutet dabei nicht nur, dass Beschäftigte weitestgehend frei bestimmen, wann sie ihre Arbeit erbringen, sondern vielmehr damit einhergehend auch ein Verzicht auf Kontrolle der Arbeitszeit durch den Arbeitgeber. Die positiven Wirkungen und Chancen dieser Arbeitszeitregelungen für Mitarbeitende und Unternehmen müssen erhalten bleiben. Diese Modelle erfordern einen gesetzlichen Rahmen, der sich weg von „one‐size‐fits‐all“‐Verboten hin zu differenzierenden Möglichkeiten und Gestaltungschancen entwickelt und so die Anforderungen an unterschiedliche Arbeitsformen anerkennt. Viele Tätigkeiten lassen sich nach Beendigung der einen Schicht durch die folgende Schicht unmittelbar substituieren. Das gilt für vor allem auf Gedankenprozessen basierende Arbeiten nicht – diese lassen sich nicht qua „Ausstechen“ von einem auf den anderen Beschäftigten übertragen. Damit einher geht auch der Wandel von zeitbasierter hin zu ergebnisorientierter Arbeitsleistung. Dieser Realität muss auch ein sinnvoller Arbeitsschutz dienen. Ziel muss es sein, den Schutz dort sicherzustellen, wo nötig, aber auch Flexibilität und Eigenverantwortung dort zu gewähren, wo möglich.
Dies haben andere europäische Staaten auf Basis der EU‐ArbZRiLi getan. So hat beispielsweise der niederländische Gesetzgeber Ausnahmen bei der Arbeitszeiterfassung an eine Vergütung geknüpft, die den nationalen Mindestlohn um das Dreifache übersteigt. Eine solche Umsetzung ist pragmatisch, und die Abgrenzung ist einfach.
Der deutsche Gesetzgeber ist insoweit ebenfalls gefordert, bei den Ausnahmen zur Arbeitszeiterfassung die Flexibilität der europäischen Vorgaben zu nutzen. Beispielsweise räumt Art. 17 der EU‐ArbZRiLi eine Öffnung für „Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis“ ein.
Eine solche autonome Entscheidungsbefugnis soll laut Koalitionsvertrag den Beschäftigten eingeräumt werden können, sofern und soweit sie qua Tätigkeit mobil arbeiten können. Ihnen soll ein justiziabler Erörterungsanspruch bezüglich Mobilarbeit mit dem Arbeitgeber zustehen. Entsprechend sollte für diese Beschäftigen auch hinsichtlich der Arbeitszeitkontrolle und ‐dokumentation kein zwingendes und enges administratives Regelungskorsett zur Anwendung kommen.
Hier ist die Politik gefordert, stringent zu handeln. Wer einen Erörterungsanspruch mit Blick auf den Arbeitsort befürwortet, muss auch Optionalität bei der (Kontrolle der) Arbeitszeit einräumen. Arbeitszeit und Arbeitsort als Kernbereiche des Arbeitsrechts müssen insoweit korrespondieren. Mehr Freiheit muss mit mehr Eigenverantwortung verbunden sein dürfen.
Die zunehmende Tendenz der asymmetrischen Verteilung von Rechten für Beschäftigte einerseits und Pflichten für Arbeitgeber andererseits sollte jedenfalls dort begrenzt werden, wo europäische Vorgaben ausdrücklich Öffnungen für differenzierte Regelungen zulassen. In diesem Zusammenhang müssen sich auch dringend die starren Tageshöchstarbeitszeiten hin zu einer Wochenhöchstarbeitszeit weiterentwickeln. Nur durch flexible arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen wird der Wirtschaftsstandort Deutschland im europäischen und globalen Wettbewerb nachhaltig attraktiv bleiben.