Wider die selbstverschuldete Wachstumsschwäche
BDA AGENDA 01/24 | KOMMENTAR DER WOCHE | 11. Januar 2024
Prof. Dr. Bert Rürup, Chefökonom des Handelsblatts und Präsident des Handelsblatt Research Institute
Die gesamtwirtschaftliche Leistung der deutschen Volkswirtschaft lag im dritten Quartal 2023 auf dem Niveau von Ende 2019. Damals war Inflation kein Thema, die Ukraine, in der Oligarchen das Sagen hatten, lag fern, und bei Corona dachte man allenfalls an ein mexikanisches Bier. Fakt ist in keinem anderen Euroland war in den zurückliegenden Jahren die wirtschaftliche Entwicklung ähnlich schwach wie in Deutschland.
Hätte das Bruttoinlandsprodukt – wie im Schnitt der Eurozone – in diesem Zeitraum um drei Prozent zugelegt, stünden dem Staat überschlägig 25 bis 30 Milliarden Euro mehr an Steuereinnahmen und fast so viel an Sozialbeiträgen zur Verfügung. Die aktuelle Haushaltsmisere des Landes ist daher nur vordergründig eine Folge des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 15. November 2023, sondern in erster Linie die Konsequenz einer sträflichen Vernachlässigung der Wachstumspolitik in der zurückliegenden Dekade.
Dies ist umso bedenklicher da das Land unmittelbar vor dem Einsetzen eines seit Langem besten prognostizierten – aber seit Jahren ignorierten – massiven Alterungsschubs steht. Der Sachverständigenrat schätzt, dass das im vergangenen Jahrzehnt bei etwa 1,4 Prozent liegende Trendwachstum bis zum Ende dieses Jahrzehnts bei weniger als 0,5 Prozent pro Jahr liegen werde. Im Vergleich zur zurückliegenden Dekade fehlt jedes Jahr ein Prozentpunkt Wachstum oder ein Einkommenszuwachs von rund 40 Milliarden Euro.
Gegenwärtig tobt eine Art Glaubenskrieg, ob unter diesen Bedingungen an der 2009 im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse festgehalten werden sollte. Die Antwort sollte „Ja“ lauten, aber an einer klügeren. Selbst liberale Ökonomen konzedieren, dass Staatsschulden per se nichts Schlechtes sind. So ist unstrittig, dass der Staat in einem massiven Konjunktureinbruch fehlende private Nachfrage kurzfristig durch zusätzliche Ausgaben zur Glättung des Konjunkturverlaufs einsetzen sollte. Einer persistenten Wachstumsschwäche, wie wir sie gegenwärtig erleben, mit kreditfinanzierten Ausgaben entgegenzuwirken ist dagegen nicht ratsam, solange deren – angebotsseitigen Ursachen ignoriert werden.
Auch Wachstumspolitik – konkret niedrigere Unternehmenssteuern, moderne Abschreibungsregeln oder die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung – kosten Geld. Gleiches gilt für eine Stimulierung eines höheren Arbeitsangebots, etwa durch ein klügeres Bürgergeld, die Einrichtung echter Ganztagsschulen, bessere Betreuungsmöglichkeiten oder die erforderliche Bildungsoffensive – ganz zu schweigen – von einer Flankierung der Dekarbonisierung der Volkswirtschaft mit öffentlichen Investitionen.
Eine kluge Schuldenregel darf eine gebotene Wachstumsoffensive nicht behindern, aber sie muss verhindern, dass durch Subventionen an profitable Weltkonzerne, die Gewährleistung dauerhafter Strukturhilfen für überkommene Industrien oder überkommene Vergünstigungen für gutsituierte Privathaushalte einem nicht das Wachstum stimulierenden Anstieg der Staatsverschuldung Vorschub geleistet wird.
Die Regierung wäre daher gut beraten, alsbald eine Kommission einzusetzen, in der alle demokratischen Parteien sowie die profiliertesten Ökonomen und Juristen bei der Suche nach einer wachstumskompatiblen Schuldenbremse eingebunden werden. Deren Empfehlungen könnten dann zu Beginn der kommenden Legislaturperiode zur überfälligen Sicherung des Wohlstandes des Landes umgesetzt werden.