Swipe for a job! Wie ein EU Job-Tinder deutschen Firmen helfen könnte
BDA AGENDA 16/23 | KOMMENTAR DER WOCHE | 27. Juli 2023
Damian Boeselager
MEP, Mitbegründer und Abgeordneter der paneuropäischen politischen Partei Volt
90% der Firmen in Deutschland haben es schwer, Personal zu finden - das ergeben neueste Umfragen der Bundesagentur für Arbeit. Der Grund ist leicht zu finden: Jede Fünfte in Deutschland ist mittlerweile über 66, jede Zweite über 45. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das Unternehmenswachstum, es strapaziert auch Sozialversicherungen, Pensionskassen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen und viele weitere Dienstleistungen gerade auf dem Lande.
Über die kommenden Jahre wird sich unser Arbeitsmarkt verändern, weshalb lebenslanges Lernen immer ein Teil unserer Antwort bleiben muss. Die Vermittlung von Arbeitssuchenden kann besser werden, wenn wir flexibler und dauerhafter ausbilden. Aber auch eine erhöhte Erwerbsquote kann der demographischen Entwicklung wenig entgegensetzen. Ohne Einwanderung wird der Druck auf unsere Wirtschaft weiter steigen.
Mit dem zweiten Einwanderungsgesetz in zwei Jahren soll in Deutschland Abhilfe geschafft werden. Aber noch immer denken wir Deutsche aus der Inlandsperspektive und weniger aus der Perspektive derjenigen, für die wir attraktiv werden wollen. Die Gesetzeslage wird offener, aber auch verfranzter und komplizierter. Und was sagen die potenziellen Kunden dazu?
Für Menschen, die ihr Heimatland verlassen wollen, gilt in der Mehrzahl: Sie wollen lieber nach Australien oder in die USA als nach Europa. Auch unter Trump waren die USA attraktiver als der europäische Kontinent. Daran sind zwei Aspekte bemerkenswert: Zuerst natürlich, dass selbst ein xenophober US-Präsident mit Gesetzen, die dezidiert gegen Migration ausgerichtet sind, Europa nicht attraktiver dastehen lässt; und zweitens, dass in diesen Umfragen Deutschland nicht auftaucht - sondern Europa! Menschen mit Migrationswunsch denken nicht in erster Linie an einzelne europäische Mitgliedsländer.
Europa spielt eine viel wichtigere Rolle für das Thema Migration, als die deutsche Regierung es sich eingestehen will. Selbst der größte europäische Arbeitsmarkt kommt nicht an die USA ran. Wenn ich als Einwandererin in New York meinen Job verliere, kann ich in San Francisco, LA, Miami und Chicago einen neuen suchen. Wenn ich meinen Job in Berlin verliere, bleibt mir nur der deutsche Arbeitsmarkt. Überall sonst fängt der Visa-Prozess wieder von vorne an.
Wer aus Kundenperspektive denkt, muss europäisch denken und sich die customer experience und customer journey vor Augen halten.
Den Überlegungen, nach Europa umzuziehen, sollte eine europäische Website gegenüberstehen, die ausreichend informiert und gezielt Wege aufzeigt, sein Interesse möglichst sofort zu registrieren. Im nächsten Schritt sollten konkrete Möglichkeiten für Jobs und Visa generiert werden. Deshalb habe ich schon zu Beginn 2020 die Einführung eines EU Talent Pools gefordert, der ausländische Arbeitskräfte mit offenen Stellen matcht. Ein EU-Job-Tinder, wenn man so will.
Nach dem Match braucht es schnelle Verfahren! Es kann nicht sein, dass Arbeitskräfte, die wir dringend brauchen, teilweise Jahre auf ihre Visa warten - trotz Jobangebot und vollständiger Unterlagen. Wenn das Recht auf Familienzusammenführung besteht, ist es ein absolutes No-go, dass Menschen teilweise Jahre darauf warten, mit ihren Familien zusammen zu leben. Manch einer verlässt Europa deswegen enttäuscht.
Und dann sollten wir dringend unseren Arbeitsmarkt europäisch denken. Wenn jemand Lust hat, ins europäische Ausland umzusiedeln, weil es da einfach gerade den spannenderen Job gibt, dann sollten Strukturen sie oder ihn nicht abhalten. Schnell und unkompliziert sollte es ohne Nachteile möglich sein, überall in Europa zu arbeiten, und dennoch weitere Integrationsschritte (Niederlassungserlaubnis oder Staatsbürgerschaft) machen zu können. Talente anzuziehen ist schwierig - aber sie zu halten ist auch kein Selbstläufer!
Lasst uns Migration von nun an europäischer denken, statt in unserem deutschen Saft zu schmoren. Dann wird das Wandern wieder des Müllers Lust!