Interview mit Arbeitgeberpräsident Dr. Rainer Dulger in der Neuen Osnabrücker Zeitung
Osnabrück, 29. Januar 2021. Entfesselt die Wirtschaft! Auf diesen Nenner lässt sich die Kernbotschaft des neuen Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger bringen. Im Interview mit unserer Redaktion drängt er auf eine Strategie für die Zeit nach Corona. Dazu fordert er unter anderem mehr Flexibilität in der Arbeitswelt, eine gesetzliche Begrenzung der Lohnnebenkosten, Reformen der Sozialversicherungen und eine Offensive zur Verbesserung von Bildung und Infrastruktur.
Scharf kritisiert Dulger zudem Hersteller von Corona-Impfstoffen: "Manche Akteure erfüllen in meinen Augen nicht das Bild eines ehrbaren Kaufmanns."
Das Interview im Wortlaut
Herr Dulger, Sie fordern, „über die Zeit nach Corona“ zu reden. Und sie drängen auf eine „Entfesselungsoffensive“. Was genau heißt das?
Bisher ist es doch so, dass sich regelmäßig 16 Ministerpräsidenten, die Kanzlerin und ein paar Virologen zusammensetzen, um über die nächsten drei Wochen zu entscheiden. Die Politik muss aber auch eine langfristige Strategie erarbeiten, anstatt weiter kurzfristig auf Sicht zu fahren. Und nach wie vor fehlt die angemessene Berücksichtigung der Sichtweise aus der betrieblichen Praxis. Die gemeinsame Frage, die es jetzt zu beantworten gilt, ist doch: Wie geht es nach Corona weiter?
Setzen wir mal voraus, die Operation wird gelingen…
Lassen Sie mich bei dem Sprachbild bleiben: Wenn der Patient geheilt ist, muss er noch in die Reha, um wieder zu vollen Kräften zu kommen. Auch mit der Wirtschaft wird das so sein. Viele Betriebe haben ihre Reserven aufgebraucht, viele sind angeschlagen. Deswegen brauchen wir jetzt und nicht erst in ein paar Wochen die Diskussion über eine Post-Corona-Strategie. Und es ist gut, dass Kanzleramtsminister Helge Braun das Thema diese Woche angesprochen hat. Wir müssen vorbereitet sein, wenn es dann so weit ist.
Was gehört hinein in die Strategie?
Klar ist, dass die Sozialsysteme in der Krise enorm belastet worden sind. Die Herausforderung ist ähnlich groß wie nach der deutschen Wiedervereinigung. Aber es wäre total falsch, wenn die Regierung nach Corona, die Sozialabgaben – oder gar die Steuern – erhöht. Stattdessen müssen wir alles dafür tun, dass die Wirtschaft wieder brummt. Nur dann füllen sich die Sozialkassen wieder. Wir müssen die Lohnnebenkosten bei 40 Prozent der Löhne und Gehälter begrenzen, und zwar in einem nicht änderbaren Gesetz. Es muss sichergestellt werden, dass die Grenze in den kommenden Jahren nicht wieder verrückt werden kann. Es reicht nicht, bis zum Ende der Legislaturperiode etwas zu versprechen. Wir brauchen schon vorher eine Entfesselungsoffensive für die Wirtschaft.
Welche weiteren Fesseln gilt es zu vermeiden oder abzustreifen?
Dringend vermeiden müssen wir zum Beispiel den immer wieder geforderten Rechtsanspruch auf Homeoffice. Problematisch ist und bleibt auch das geplante Lieferkettengesetz. Die deutsche Wirtschaft steht hier für Transparenz und selbstverständlich auch für die Einhaltung von Menschenrechten. Man kann Unternehmen aber nicht für die Einhaltung aller Rechte in der gesamten Lieferkette haftbar machen. Wir brauchen stattdessen auch machbare Lösungen. In eine Entfesselungsoffensive gehört auch das Thema Nachhaltigkeit: und zwar nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial. Nachhaltiges Wirtschaften einer Volkswirtschaft gelingt nur mittels konsolidierter öffentlicher, leistungsfähiger Sozialsysteme. Und Nachhaltigkeit ist eben vor allem eine Frage von Generationengerechtigkeit. Haushalt und soziale Sicherungssysteme müssen dauerhaft tragfähig sein und nicht nur bis zum nächsten Wahltermin.
Woran denken Sie da?
Meine Generation hat die Verantwortung länger zu arbeiten, wo sie kann und wo es möglich ist. Es gibt keine Alternative, als dass die Kosten aus der Alterung der Gesellschaft auf die Generationen verteilt werden – denn nur so kann das langfristige Vertrauen in die gesetzliche Rente erhalten werden. Beim Thema Bildung müssen wir endlich aus dem Winterschlaf aufwachen. Bildung ist doch der Battleground der Zukunft! Unsere Kinder sind die Köpfe von morgen. Wir brauchen auch Highspeed bei der Digitalisierung und beim Ausbau der Infrastruktur. Dabei geht es um den Verkehr - Straße, Schiene und Wasserwege -, den Ausbau der Stromnetze und leistungsfähige Datennetze auch im ländlichen Bereich. Auch dort müssen die Betriebe international wettbewerbsfähig sein. Wir müssen jetzt Zukunft schaffen! Die Agenda 2020 war gestern. Die Gesellschaft 5.0 ist heute.
Die Agenda 2010 reicht nicht mehr aus, haben Sie gesagt. Was meinen Sie damit: Mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt?
Ja, der Wirtschaftsstandort Deutschland muss wieder fit gemacht werden. Wir brauchen dringend mehr Flexibilität in der Arbeitswelt. Wir sehen ja gerade in der Krise, wie wichtig das ist. Es gibt das Sprichwort: Ein stark verwurzelter Baum kann umgeweht werden, ein Baum, der sich im Wind flexibel biegt, den wird der Wind kaum umwerfen. Deswegen ist Flexibilität gefragt in Krisen – und auch nach Krisen. Flexibilität ist die neue Sicherheit. Was wir also brauchen, ist mehr Bereitschaft, sich dem Wandel zu stellen und sich auch selbst weiterzuentwickeln!
Und das heißt?
Ganz einfach: Wir müssen weg von einer starren Stechuhr-Mentalität, weg von starren Arbeitszeitgesetzen, die aus der Zeit von Telefax und Telefonwählscheibe stammen. Die Menschen wollen heute flexibel arbeiten. Die Arbeit sollte sich jeder selbst einteilen können, so gut das geht – und in Absprache mit seinem Arbeitgeber.
Detaillierte Regeln braucht es also nicht?
Wir haben eine europäische Arbeitszeitrichtlinie, die regelt die Wochenarbeitszeit. Alles andere sollten die Arbeitnehmer mit dem Betrieb selbst regeln. In der Industrie funktioniert die Sozialpartnerschaft schon hervorragend. Wir finden hier immer Lösungen. Aber auch all die Branchen, bei denen es im Moment wirklich nicht gut aussieht – zum Beispiel im Einzelhandel, in den Dienstleistungen und bei den Messebauern – müssen jetzt möglichst flexibel wieder neu starten können.
Noch einmal zurück zum Geld. Sie warnen vor höheren Steuern. Zugleich wollen sie aber an der Schuldenbremse festhalten. Wie bezahlen wir dann die geforderten Investitionen? Und wie sichern wir das Sozialsystem ab?
Es ist richtig: Wir haben jetzt unsere Kassen leer gemacht, wir haben uns verschuldet. Die Wirtschaft ist teilweise sehr in die Knie gezwungen worden. Und deshalb müssen wir jetzt irgendwie wieder auf die Beine kommen. Dass wir bei unserer Verschuldung von rund 180 Milliarden Euro in einem Jahr auf null Verschuldung im nächsten Jahr gehen, ist kein realistisches Szenario. Die Erholungsphase wird wohl mehr Zeit brauchen. Kanzleramtschef Helge Braun hat einen degressiven Verlauf zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag ist es wert, dass er diskutiert wird. Ich bin aber nicht der Meinung, dass so etwas immer gleich mit Verfassungsänderungen verbunden sein muss. Der Sachverständigenrat hat so etwas ja auch vorgeschlagen.
Eine der größten Ausgabeposten im Bundesetat ist die Rentenversicherung. Wollen Sie auch die Steuerzuschüsse für die Rente begrenzen?
Ständig steigende Steuerzuschüsse sind auf jeden Fall nicht die Lösung. Wir brauchen Reformen, um die Finanzen zu stabilisieren. Da müssen wir uns ehrlich machen. Wir müssen das Renteneintrittsalter perspektivisch weiter anheben. Daran führt kein Weg vorbei. Denn wenn die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge jetzt nach und nach in Rente gehen, haben wir sehr viel mehr Leistungsempfänger. Wir dürfen die Augen vor dem demografischen Wandel nicht verschließen. Ich möchte, dass meine Kinder eine auskömmliche Rente bekommen und gleichzeitig unsere Sozialversicherungssysteme tragfähig sind.
Digitalisierung, neue Arbeitsplattformen und wachsende Anforderungen beim Klimaschutz stellen weite Teile der Wirtschaft vor große Herausforderungen. Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt ein?
Ich sehe Herausforderungen. Es gibt so viele neue Technologien, in die wir investieren müssen. Zugleich sehe ich aber auch enorme Chancen. Denn wir sind ein Hochtechnologieland, wir sind eine erfolgreiche Industrienation. Wenn jemand diesen Wandel in Richtung Elektromobilität, in Richtung Wasserstofftechnologie und den Aufbau digitaler Infrastruktur sowie die breite Nutzung künstlicher Intelligenz schaffen kann, dann sind wir das. Da sind die Arbeitsplätze der Zukunft.
Wie groß ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Bildung?
Es wird die Nation Erfolg haben, die ihre heranwachsende Generation sehr gut ausbildet und pragmatisch an die Zukunftstechnologien heranführt. Bildung ist die eigentliche soziale Frage von morgen Wer jetzt Bildungschancen verringert, der versündigt sich an der Zukunft. Gerade die aktuelle Krise hat uns doch gezeigt, wo wir stehen, und dass wir großen Nachholbedarf haben. Auch technisch müssen wir besser werden. Es muss doch technisch möglich sein, dass sowohl Kinder als auch Eltern so gutes Internet haben, dass sie von zuhause aus lernen bzw. arbeiten können. Das muss doch die Zukunft sein.
Im Moment gibt es viel Aufregung wegen der Corona-Schutzimpfungen? Verfolgen wir die richtige Strategie?
Wir brauchen mehr Vertrauen beim Thema Impfen in der Bevölkerung. Der Staat muss hier mehr Vertrauen schaffen, indem er deutlich besser informiert. Es muss klar kommuniziert werden, was die Impfungen bewirken. Man könnte dafür zum Beispiel fünf Minuten vor den Abendnachrichten im Fernsehen reservieren und darüber informieren, wie wichtig es ist, sich impfen zu lassen. Es wäre zudem ein Vertrauen stärkendes Signal, wenn sich zum Beispiel die Bundeskanzlerin oder der Bundespräsident öffentlich impfen lassen würde. Hier geht es nicht darum, dass sich da jemand einen Vorteil verschafft, sondern um das große Ganze und darum, Vorbild zu sein. Und Fakt ist auch: Wir bewältigen diese Krise nur, wenn wir konsequent durchimpfen.
Zur Zeit fehlt es jedoch an Impfstoffen. Noch dazu drohen Verzögerungen bei den Lieferungen…
Die Hersteller der Impfstoffe haben viele Versprechungen nicht gehalten. Da muss auch mal Druck aufgebaut werden. Manche Akteure erfüllen in meinen Augen nicht das Bild eines ehrbaren Kaufmanns.
In Niedersachsen hat die Landesregierung einen exakten Corona-Krisenplan ausgearbeitet. Je nach Infektionsgeschehen gibt es sechs Stufen für Beschränkungen beziehungsweise Lockerungen. Ein Vorbild für andere Bundesländer oder auch für den Bund?
Ja, es ist wichtig, dass wir wissen, wo wir stehen und wann es Lockerungen geben kann, das muss eng an das Infektionsgeschehen geknüpft sein. Natürlich hoffen wir alle – insbesondere die vielen Betriebe, die um ihre Existenz bangen müssen - darauf, dass wir so schnell wie möglich aus dieser Pandemie kommen. Klar ist doch: Die Anpassung unserer Impf-Strategie und die Steigerung der Impfgeschwindigkeit ist ein zentraler Wettbewerbsvorteil. Hier müssen wir besser werden – auch bundesweit.
Immer wieder ist die Kritik zu hören, privat müssten die Menschen enorme Einschränkungen hinnehmen, in der Wirtschaft dagegen laufe der Betrieb vielfach ungestört weiter. Dies sei ungerecht…
Es wäre absolut absurd, die Wirtschaft komplett runterzufahren, damit die Lasten dann vermeintlich besser verteilt sind. Dieser Staat kann nur funktionieren, wenn die Wirtschaft weiterläuft. Wenn jetzt schon Handel und Gastronomie geschlossen sind, dann müssen wenigstens die Industrie und wichtige Dienstleistungsbranchen brummen, damit die Sozialkassen auch weiterhin Einnahmen haben. Wie wichtig das ist, zeigt sich ja gerade. Die Sozialkassen leisten einen großen Beitrag, diese Krise zu bewältigen.